Verantwortung: Grégory Quin / Kurt Gritsch
Referierende: Kurt Gritsch / Grégory Quin / Anja Suter / Nicole Peter
Das Panel beleuchtete die Geschichte des Tourismus. In der historischen Forschung wurde der Fokus bislang häufig auf die Touristenströme, die Bedeutung der Infrastruktur oder den sozialen Raum gelegt. Dies wollten die drei Referierenden ändern, indem sie sich in ihren Beiträgen anstelle der Geschichte von oben, der Geschichte von unten widmeten und die beruflichen Laufbahnen der sogenannt «kleine Hände» wie Skilehrer, Reinigungsfachkräfte oder Saisonniers fokussierten. Anhand von drei unterschiedlichen Beiträgen wurden Einblicke in diese «verborgenen» sozialen Welten hinter den Kulissen des Tourismus geboten.
Im ersten Beitrag befasste sich KURT GRITSCH (Samedan) mit der saisonalen Mobilität im Engadiner Tourismussektor. Den zeitlichen Fokus legte er auf die 1870er bis 1930er Jahre, insbesondere auf die Belle Époque. Die für seine Forschung verwendeten Text- und Bildquellen stammen aus unterschiedlichen lokalen Archiven. Sein Forschungsprojekt «Migration und Tourismus» schliesst eine Lücke in der Geschichtswissenschaft, da insbesondere die Verbindung zwischen historischer Tourismusgeschichte und Migrationsgeschichte noch aussteht. Mobilität und vor allem saisonale Mobilität sei die Voraussetzung des touristischen Erfolgs, so Gritsch. Dieser basiere in den meisten Fällen auf der Arbeit von ausländischen Dienstleistenden, so auch im Engadin, denn gerade die wiederkehrenden saisonalen Anstellungen, beispielsweise in einem Grandhotel, würden insbesondere auch von Ausländerinnen und Ausländern in Anspruch genommen. Als typische Berufe im Tourismussektor nannte er Hotelangestellte, wie Rezeptionisten, Kurärztinnen oder Zimmermädchen. Der Bewerbungsprozess für eine solche Anstellung sei aber oftmals sehr schwierig und sein Ausgang ungewiss gewesen, führte der Referent anhand des Beispiels eines jungen Mannes aus Italien aus. Neben der Erwerbsarbeit hätten Menschen auch nach einem Abenteuer oder einer neuen Perspektive gesucht. Im Engadin kam es aufgrund der Zuwanderung aus dem Ausland zu einem Bevölkerungswachstum, Städte wie Meran seien nach und nach von der «Kuhstadt zur Kurstadt» angewachsen. Die lokale Bevölkerung habe auf diese Entwicklung reagiert, es sei zu bewussten Abwanderungen gekommen. Ein wichtiger Punkt waren laut dem Referenten die erhöhten Kosten insbesondere für Wohnraum gewesen. Aus den Quellen geht das spannende Detail hervor, dass vor allem Angestellte in schlecht bezahlten Bereichen oftmals aus der näheren Umgebung kamen, während Personen mit höherem Einkommen aus ganz Europa stammten. Abschliessend hielt Gritsch fest, dass es ohne saisonale Anstellung von ausländischen Arbeitnehmenden keinen (Schweizer) Tourismus gibt.
Im Beitrag von GREGORY QUIN (Lausanne) ging es um den in St. Moritz 1903 gegründeten Skiclub Alpina und um die erste Skischule der Schweiz, die 1929 ebenfalls in St. Moritz gegründet worden war. Weiter befasste er sich mit den Skilehrern, die in der Forschung als Akteure des Wintertourismus oft übersehen wurden. Der Historiker widmete sich der Frage, wie Skifahren zum Nationalsport der Schweiz avancierte und setzte als Erklärung für die Faszination den Skiclub an erste Stelle. Anhand von Quellen aus lokalen Tourismusarchiven und Archiven der Skisportverbände analysierte Quin die internen und externen Logiken des Wintertourismus. Nach einem historischen Überblick über die Entwicklungen des Skifahrens, der zurück in die 1910er Jahre führte, erläuterte er die Geschichte der Skischule St. Moritz. Die von Giovanni Testa gegründete und geführte Skischule, in der Skisportbegeisterte fortan «seine» Skitechnik erlernen konnten, sei sehr beliebt gewesen. In den Anfängen seien die bereits vorhandenen Pisten noch nicht präpariert worden, das Skifahren habe erst dann eine wichtige Rolle zu spielen begonnen, als 1935 der erste Skilift im Engadin errichtet wurde. Der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Tourismus habe den Wunsch des professionellen Erlernens des Skifahrens weiter gestärkt. Älter noch als diese Skischule ist der Skiclub Alpina, der bereits in den 1920er Jahren viele Mitglieder verzeichnete und dem Skifahren Aufschwung verlieh. Quin verdeutlichte diesen Trend anhand von Inseraten in regionalen Zeitungen, in denen im Raum St. Moritz bereits 1925 nach Skilehrern für die kommende Wintersaison gesucht wurde. Aus den Quellen geht demnach hervor, dass bereits vor der Gründung der Skischule Skiunterricht angeboten wurde. Weiter betonte er, dass sich das Skilehrerwesen ab 1927, ebenfalls noch vor der Gründung der Skischule, professionalisierte: Skilehrer mussten fortan ein Patent aufweisen, wenn sie Sportbegeisterten das Skifahren beibringen wollten. Und schliesslich hätten auch die Olympischen Spiele von 1928 dem Skiclub Alpina Anerkennung und Bekanntschaft verschafft, so die abschliessenden Worte des Referenten.
Saisonniers lebten ab den 1930er Jahren bis zur Jahrtausendwende in der Schweiz nicht nur am Rande der Gesellschaft und unter prekären Bedingungen, sondern auch ihre Leistungen sind bis heute kaum anerkannt. Dem wollen die beiden Referentinnen ANJA SUTER (Zürich) und NICOLE PETER (Zürich) mit ihrer Forschung entgegenwirken. Saisonniers spielten in der Schweizer Tourismusbranche – ab den 1960er Jahren ist von Massentourismus die Rede – eine unabdingbare Rolle, so Suter. Das sogenannte Saisonnierstatut wurde 1931 mit dem Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) eingeführt und regelte bis zu seiner Abschaffung 2002 die Vergabe von Kurzaufenthaltsbewilligungen an ausländische Arbeitskräfte. Dieses Statut bestimmte nicht nur die Arbeits-, sondern auch die Aufenthalts- und Lebensbedingungen. Die Arbeitgebenden profitierten vom gezielten Einsatz saisonal eingesetzter und kostengünstiger Arbeitskräfte, gerade auch die sehr arbeits- und personalintensive Hotellerie. Die auszuführenden Tätigkeiten waren dabei sehr unterschiedlich, meist aber körperlich anstrengend, so etwa Reinigungsarbeiten oder Arbeiten im Bausektor. Die meisten Saisonniers kamen aus Italien, weitere aus Spanien, Portugal, Jugoslawien oder Griechenland. Saisonniers seien in mehreren Punkten gegenüber Schweizer Arbeitnehmenden benachteiligt gewesen: Sie hätten nicht nur einen tieferen Lohn für dieselbe Arbeit erhalten, sondern arbeiteten aufgrund ihres Status, der Aufenthaltsbewilligung A, zeitlich befristet in der Schweiz und mussten nach neun Monaten das Land verlassen. Neben der Unsicherheit aufgrund der fehlenden mittelfristigen Perspektive seien im Weiteren auch einschneidende Verbote, wie beispielsweise das Recht auf Familiennachzug, von Bedeutung gewesen. Weil Saisonniers untersagt war, ihre Kinder nachzuziehen, brachten viele sie heimlich in die Schweiz. Viele Eltern erlaubten ihren Kindern nicht, sich Draussen aufzuhalten, sie lebten ihrer Sicherheit wegen versteckt in Zimmern. Ab den 1970er Jahren wurden mehrere Initiativen lanciert, die eine Besserstellung von Saisonniers und verschiedene neue Rechte forderten, 1975 beispielsweise die «Mitenand-Initative». Die Annahme dieser Initiative durch das Stimmvolk habe die Lebensbedingungen verbessert, allerdings nur in bescheidenem Masse, so Peter. In ihrem Fazit hielten die beiden Referentinnen fest, dass die geschichtswissenschaftliche Erforschung und Verankerung der Saisonniers in der Schweiz eine Herausforderung darstellen, insbesondere aufgrund fehlender Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die sich bereit erklären, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Die Wanderausstellung «Wir Saisonniers», die bereits in mehreren Städten gezeigt wurde und weiterhin zu sehen ist, wirkt dem Vergessen entgegen und informiert die Bevölkerung über diese Geschichten.
Die drei Referierenden ermöglichten mit ihren sozialgeschichtlich ausgerichteten Beiträgen einen Blick hinter die Hotelmauern auf die Lebenswelten von Akteuren, die in der historischen Forschung bislang wenig sichtbar waren. Damit werden auch die Schattenseiten des Tourismus deutlich. Das Panel beleuchtete so neue Facetten der Tourismusgeschichte, die schliesslich nicht länger als reine Erfolgsgeschichte erzählt werden kann.
Panelübersicht
Kurt Gritsch: «Stavo sicuro di ritornare a fare la stagione a Vulpera.» Von der saisonalen Mobilität im Tourismussektor am Beispiel St. Moritz/Engadin und Meran von der Belle Époque bis zum Zweiten Weltkrieg
Grégory Quin: La première école suisse de ski. Entre un premier directeur italien, des réseaux locaux et l’invention du ski alpin à St. Moritz dans l’entre-deux-guerres
Anja Suter: Systematisch unsichtbar gemacht: Die Arbeit der Saisonniers in der Schweizer Hotellerie (1945-2002)