Verantwortung und Moderation: Daniel Speich Chassé
Teilnehmende: Moritz Feichtinger / Christiane Sibille / Gleb Albert
Das Digitale habe zu einem grossen Wandel geführt, dessen Ausmass aber erst die Zeit klären wird, konstatierte DANIEL SPEICH CHASSÉ (Luzern) in seiner Einleitung ins Podium. Historikerinnen und Historiker müssten zwar nicht sofort darauf reagieren, seien aber gleich doppelt herausgefordert: Zum einen hätten die digital humanities und durch Algorithmen gesteuerte Methoden vielfältige Tools hervorgebracht, die den Historikerinnen und Historikern ein völlig neues Repertoire an Instrumenten für die Erforschung und Vermittlung von Geschichte ermöglichen; zum andern habe der techno-soziale Medienwandel eine Zäsur eingeläutet. Dieser Wandel und seine Auswirkungen auf soziale und Machtstrukturen seien ebenfalls historisch zu beforschen und kritisch zu analysieren. Ziel des Podiums war es, diese beiden Stränge zu verbinden.
An der Diskussionsrunde unter der Moderation von Daniel Speich Chassé nahmen drei Personen teil. MORITZ FEICHTINGER (Basel) forscht zu Informationstechnik als Machttechnologie. Der Umgang mit neuen Technologien schafft neue gesellschaftliche Praktiken und wirkt sich gemäss Feichtinger auf die Gesamtgesellschaft aus. Diese Entwicklungen werden ihm zufolge bisher hauptsächlich von Historikerinnen und Historikern, die sich mit Zeitgeschichte und digitalen Quellen auseinandersetzen, untersucht. Originäre Quellen zu Informationstechnologien aus älteren Epochen seien jedoch genauso wichtig wie die Codes, Betriebssysteme, Software, Maschinen und Artefakte, mit denen Feichtinger arbeitet.
CHRISTIANE SIBILLE (Zürich) leitet die Fachstelle «Digital Scholarship Services» der ETH-Bibliothek. Sie beschäftigt sich unter anderem mit der Erschliessung von Quellenmaterial durch neue Methoden. Welches Modell dafür das beste ist und wie Inhalte aus Datenbanken in Zukunft überhaupt aufbereitet werden können, sind nur zwei der Fragen, die Sibille untersucht. Die Historisierung von Technologien dürfe dabei aber nicht ausbleiben. Es sei deshalb wichtig, dass Historikerinnen und Historiker am Puls neuer Technologien sind und mit diesen umzugehen lernen. Dass dafür ihre Ausbildung durch neue Elemente ergänzt oder zumindest der interdisziplinäre Austausch zwischen Informatik und Geschichtswissenschaften gefördert werden muss, steht für Sibille ausser Frage.
GLEB ALBERT (Luzern) beschäftigt sich aus klassischer Sicht mit Technologien und weniger mit Methoden der digital humanities. Im Zentrum seiner Fragestellungen steht die Rolle des Computers als Massenkonsummittel, als Artefakt und als Medium selbst. Auch Albert sieht die Historisierung des Wandels als eine der grossen Herausforderungen. Die Gesellschaft tendiere zur Annahme, dass digitale Dinge schon immer so funktioniert hätten, wie sie es heute tun. Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft sei es, auch die Materialitäten miteinzubeziehen, d.h. die Beschaffenheit der Computer und ihre Leistungen, ebenso wie die damit verbundenen Erwartungen.
Die Podiumsteilnehmenden verfassten im Vorfeld der Diskussion Thesen zu Fragen rund um die neuen Methoden und Ansätzen der digital history sowie zur Periodisierung der digitalen Entwicklungen. Feichtinger begann mit der vorbereiteten These, dass digitale Methoden an Positivismus zu ersticken drohten - ersetzte sie aber im zweiten Atemzug durch «eine bessere», wie er meinte: Den Computer gibt es nicht. Dies ist nicht wortwörtlich zu verstehen, vielmehr sei der Begriff «Computer» ein präsentistischer und ubiquitär. Schliesslich sei heute in praktisch allem ein Computer enthalten. Der Begriff habe vor 80 Jahren keine Rolle gespielt und werde dies in 20 Jahren auch nicht tun. Seine Überlegungen folgten drei weiteren Linien, die alle an die Frage nach dem eigentlichen Beginn der Digitalisierung angelehnt sind und ohne die die moderne Entwicklung nicht möglich gewesen wäre: die Beherrschung des Stroms, dessen Leitung und Kanalisierung, die Miniaturisierung, das Taktieren und die Schnellmachung; die Mathematisierung der Wissensproduktion sowie Kommunikationstechniken bzw. die codierte Information. Wo beginnt nun die Digitalisierung also und wie kann dieser Prozess periodisiert und historisiert werden?
Speich Chassé ergänzte Feichtingers Ausführungen: In den 1950er Jahren sei der Computer kein Gegenstand gewesen, sondern eine Person. Eine besondere Verbindung liesse sich zu weiblichen Wirkungsräumen festlegen, zeige aber gleichzeitig die grosse definitorische Unsicherheit. Verbreitung in der Gesellschaft fanden Computer über alltägliche Gegenstände, wie etwa die erste vollautomatische Waschmaschine in den 1940ern oder die Geschirrspülmaschine. Dass die breite Bevölkerung damals beim Wäschewaschen an den integrierten Rechner dachte, sei wohl so unwahrscheinlich wie heute.
Sibille stellte Feichtingers Aussagen zur Periodisierung in einen praktischen Kontext. Generative Technologien entstehen aus dem Zusammenspiel frei verfügbarer Daten im Internet und Technologien wie Strom und Hochleistungs-Chips. Für Historikerinnen und Historiker sei klar, dass in diesem Zusammenspiel nicht nur technologische Neuerungen entstehen, sondern auch neue Methoden. Mit den Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) entstünden Herausforderungen bezüglich Periodisierungs- und Historisierungsbemühungen. Als These führt Sibille an, dass sich im KI-Kontext interessante Unsichtbarkeiten verbergen. Modelle würden zu neuen Akteuren der Wissensproduktion, die für Historikerinnen und Historiker eine black box sind. Der Begriff black box bezieht sich auf ein komplexes System, von dem man zwar In- und Outputs kennt, dessen genaue Funktionsweise aber unklar bleibt. Zurzeit hätten wir noch kein methodisches Handwerk, um damit umzugehen, meinte Sibille. Solche Methoden müssten in naher Zukunft entwickelt und die algorithm literacy gefördert werden. Dass es solche Entwicklungen bereits gibt, führte Feichtinger am Beispiel des Modells Explainable Artificial Intelligence (XAI) von IBM aus. Das Modell soll Nutzenden ermöglichen, die Resultate eines KI-Algorithmus nachvollziehen zu können.
Albert schaltete sich mit der Frage in die Diskussion ein, ob es nicht bereits eine ex-post Sichtweise sei, den Computer als «nicht existent» zu betrachten. Wenn die Entwicklungen aus dieser Perspektive betrachtet würden, bestehe die Gefahr, dass vieles nicht gesehen wird. In den 1990er Jahren habe es den Computer beispielsweise keineswegs überall gegeben und er sei weitestgehend irrelevant gewesen. Der historische Blick auf den Computer müsse von der Technikgeschichte getrennt werden, lautete Alberts These. Selbstverständlich sei Computergeschichte Technikgeschichte – aber eben auch Gesellschaftsgeschichte. Um die digitalisierte Gegenwart historisieren zu können, sei etwa auch zu untersuchen, wie Menschen mit dieser Assemblage aus Plastik und Metall umgingen, als sie den Computer erstmals in den Händen hielten, und welche Hoffnungen sie damit verbanden. Albert sprach sich für kombinierte, interdisziplinäre Zugänge aus, um den gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen.
Feichtinger widersprach Albert und führt aus, dass in den 1990er Jahren Computer durchaus überall gewesen seien, nämlich unsichtbar in der Grosstechnologie etwa in Form von Kraftwerken und Zügen. Der personal computer (PC) sei allerdings davon ausgenommen. Für ein breiteres Publikum sei die Technologie zuerst als Unterhaltung aufgekommen, etwa für Amateurfunker und Radiobastlerinnen. Zentralgeräte seien damals «klüger» gewesen als Endgeräte, heute sei dies umgekehrt. Albert entgegnete, dass der von Feichtinger als Ausnahme bezeichnete PC die Gesellschaft die letzten 30 Jahre stark geprägt hat und deshalb nicht leichtfertig abgetan werden sollte. Die Endgeräte vernetzen zu können sei die Ausnahme gewesen. Diese kommunikationstechnischen black boxes zu vernetzen sei damals schwer gewesen und habe viel Fachwissen sowie finanzielle Ressourcen erfordert, berichtete er aus eigener Erfahrung. Die eigentliche Vernetzung sei durch Diskettentausch erfolgt und dieser daher für die gesellschaftliche Entwicklung von grosser Bedeutung.
Im letzten thematischen Block des Podiums stellte Speich Chassé die Frage, ob sich die Rolle von Historikerinnen und Historiker als «Gatekeeper der Übersetzung des Vergangenen in die Gegenwart» verändern wird. Wer kann in Zukunft Aussagen dazu machen, was passiert ist?
Für Feichtinger war klar, dass sich die Disziplin der Geschichtswissenschaft in einem revolutionären Umbruch befindet. Dieser betreffe drei Bereiche, namentlich die Archive und Quellen, die Hermeneutik sowie die Vermittlung der Geschichte selbst. Die Archivierung digitaler Daten auf unterschiedlichen Trägern lasse viele Unsicherheiten aufkommen. Archive und Bibliotheken seien etwa mit der Frage konfrontiert, wer was archivieren kann, zumal nicht alle dieselben Ressourcen haben. Die Heuristik sei besonders betroffen von den Herausforderungen der algorithmischen black boxes. Internetsuchen liefern automatisch eine gefilterte und hierarchisierte Version der Antworten. Genau deshalb sollten die Kompetenzen zur Einordnung bei der Geschichtswissenschaft bleiben, auch wenn möglicherweise die Art, wie an Fragestellungen herangegangen wird, angepasst werden müsse. Feichtinger stellt sich beispielsweise einen makroskopischen Blick in die Metadaten statt in die Quellen vor. Warum solle man alles lesen, wenn statistisch alles ausgewertet werden kann, was erschienen ist? Für die Vermittlung von Geschichte würde dies bedeuten, dass Texte als datenbasiert verstanden werden. Damit stellte er klassische Methoden fundamental in Frage. Auch Sibille sprach sich abschliessend für die Integration neuer Methoden in die Geschichtswissenschaft aus und verband dies zugleich mit einem Aufruf an Historikerinnen und Historiker, die das Handwerk der Quellenkritik erlernt haben, sich aktiv in die Medienkritik einzubringen.
Das Podium überzeugte durch die Gegenüberstellung äusserst unterschiedlicher Herangehensweisen an die Herausforderungen des digitalen Wandels. Besonders herausstechend war, dass es ohne neue Formen der interdisziplinären Zusammenarbeit nicht gehen wird. Neue, funktionierende und zukunftsträchtige Methoden zu entwickeln, stellt an sich eine Herausforderung dar. Nach den Ausführungen der Diskussionsteilnehmenden scheint es unumgänglich, Historiker zumindest für den Dialog mit Informatikerinnen zu befähigen, um den dargelegten Herausforderungen wirklich begegnen zu können. Seit einigen Jahren gibt es erste Versuche, die digitalen Möglichkeiten und Fähigkeiten auch mit der Lehre und klassischen Methoden in Einklang zu bringen, eine breitere Anwendung muss aber noch ausgereift werden. Die Podiumsteilnehmenden schafften es, die Dringlichkeit dieser wohl mehr als doppelten Herausforderungen darzulegen und damit einen Appell an die Zuhörenden zu richten, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Wie die Geschichtswissenschaft in den nächsten Jahren damit umgehen wird und ob es insbesondere die Lehre vermag, den Anschluss nicht zu verpassen, bleibt abzuwarten.