Die Frage, ob es zwischen künstlerischen Werken und politischen Entscheidungsprozessen Berührungspunkte gebe, ist äusserst spannend. Mag es noch einleuchten, dass Politik Kunst beeinflusst, so ist es schon schwieriger aufzuzeigen, dass auch Kunst Einfluss auf politische Entwicklungen hat.
Gerade die DDR und das Kino dieses Landes bieten sich als zeitlich klar umrissenes und neu zugängliches Forschungsfeld zur Beantwortung dieser Fragestellung an. Im real existierenden Sozialismus war nach Lenin die Filmkunst die wichtigste aller Künste, und doch, oder gerade deswegen, mussten alle Filme ein kompliziertes Zensursystem durchlaufen. Überraschenderweise sind diesem System immer wieder einige höchst kritische Werke entschlüpft. Wie ist es dazu gekommen? Gerade weil die Partei dem Kino einen hohen Stellenwert beimass, musste ihr an publikumswirksamen Filmen gelegen sein. Strikt der ideologischen Leitlinie folgende Drehbücher zogen kaum die Massen an. Eine gewisse Ambivalenz musste zugelassen werden, nonkonforme Lebensentwürfe gezeigt werden. Damit verband sich aber ein Risiko für die Partei – und die Filmemacher. Wie beide Seiten mit diesem Risiko und Spielraum umgingen, wurde anhand von neu zugänglichen Akten aus dem Bundesarchiv Berlin und dem Filmarchiv Berlin aufgezeigt. Dabei wurden einzelne Spielfilme aus dem Zeitraum von 1961 bis 1977 analysiert und mit den entsprechenden Dokumenten und Äusserungen der Partei verglichen.
In einem vorbereitenden ersten Teil der Arbeit steht das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Film als Quelle im Zentrum. Da sich die Arbeit neben den traditionellen Quellen auch auf Spielfilme als Quellen stützt, war es wichtig, zum voraus einige Fragen zu klären. Diese Fragen nahmen darum einen grösseren Teil der Arbeit ein, weil dieser Aspekt in der historischen Forschung bisher nicht ausreichend abgedeckt war. Zunächst wurde verfolgt, inwiefern bewegt-bildliche Aufzeichnungen als eine eigenständige Quellengattung erschlossen werden können. Zudem musste untersucht werden, inwieweit sich filmische Quellen von traditionellen Quellen unterscheiden. Es werden die theoretischen und empirischen Grundlagen angeführt, nach denen Filme in der Geschichtswissenschaft ausgewertet werden können. Und schliesslich wird anhand eines historischen Abrisses dargelegt, wie sich das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zum Film im Verlauf dieses Jahrhunderts verändert hat. Dies alles ergibt eine Zusammenstellung, die in einer solchen Systematik bisher in der historischen Literatur noch nicht vorlag. Diese Grundlagen machten es erst möglich, näher zu erörtern, in welcher Form Spielfilme als historische Quelle herangezogen werden können und welche Relevanz sie für die vorliegende Arbeit haben.
Die Filmpolitik der DDR in den sechziger Jahren macht den zweiten Teil der Untersuchung aus. Kulturpolitisch im Zentrum dieses Jahrzehnts steht das 11. Plenum des ZK der SED. Nach dem Mauerbau war im Filmschaffen der DDR eine Liberalisierung feststellbar. Aktuelle gesellschaftliche Themen wurden aufgegriffen, und die Filmkultur erhielt eine Dynamik, die erst mit dem 11. Plenum des ZK und der dort beschlossenen Umkehr in der Kulturpolitik gebrochen wurde. Nach dem Plenum herrschte unter den Kulturschaffenden eine grosse Scheu vor politisch-gesellschaftlichen Gegenwartsstoffen. Ein Rückzug auf vorwiegend unterhaltende und historische Geschichten war zu beobachten. Als filmische Quellen wurden folgende Werke ausgewählt: „Der geteilte Himmel“ von Konrad Wolf (1964), „Das Kaninchen bin ich“ von Kurt Maetzig (1965) sowie „Spur der Steine“ von Frank Beyer (1966).
Analog zum zweiten Teil steht die Filmpolitik in den siebziger Jahren im Zentrum der Betrachtungen des dritten Teils der Arbeit. Nach der Machtübernahme Erich Honeckers und seinem Ausspruch, wonach es, „wenn man von den festen Positionen des Sozialismus“ ausgehe, „auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus“ 2 geben könne, hegten die Kulturschaffenden für kurze Zeit grosse Hoffnungen. Tatsächlich gab es gewisse kulturpolitische Lockerungen, die aber schon bald von einem rigideren Kurs, der in der Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann gipfelte, abgelöst wurden. Als filmische Quellen wurden folgende Werke ausgewählt: „Die Legende von Paul und Paula“ des Regisseurs Frank Beyer von 1973 und „Die Flucht“ des Regisseurs Roland Gräf von 1977.
Als Ergebnis kann aufgezeigt werden, dass für die SED der Film ein wichtiges Mittel war, politisch-ideologischen Richtungsänderungen Ausdruck zu geben. Etwas überspitzt könnte man sagen, dass dem Film eine avantgardistische Rolle zugedacht war. Dies bedingte aber eine gewisse Unabhängigkeit, Independenz, die ja erst Interdependenz ermöglicht. Folgendes Schema lässt sich als Ergebnis der Arbeit skizzieren: 1. Die Partei wollte einen neuen politischen Kurs durchsetzen. 2. Sie brauchte dazu die Unterstützung der Kulturschaffenden. 3. Um diese zu erhalten, gewährte sie ihnen als Gegenleistung mehr Freiheiten. Die so geschaffenen Freiräume sollten auch dazu dienten, unkonventionelle und schnelle Lösungen zu finden, um das Ziel der Partei auf „neuen Wegen“ effektiver zu erreichen. 4. Die grösseren Spielräume führten zu einer kreativen Phase von Wechselwirkungen zwischen Kulturschaffenden und Partei. 5. Der so geschaffene, neue Zustand hatte zur Folge, dass die Partei nicht mehr in allen Belangen Herr der Lage war. Sie reagierte, statt zu diktieren. 6. Aus Angst, dass sich die Kulturpolitik verselbständigen und auf andere Bereiche des Systems übergreifen könnte, griff die Partei durch und etablierte wieder den alten Zustand.