Im Zentrum dieser Arbeit stehen Deutung und Wahrnehmung von extremen Naturereignissen. Es geht zum einen um die rhetorischen Aspekte der Wahrnehmung, das Schreiben und Reden über extreme Naturereignisse; weiter aber auch um konkrete Deutungs- und Erklärungsmuster, und zuletzt auch um Fragen der Schuld, die mit der Deutung eines folgenreichen Ereignisses eng verknüpft sein können. Als Datengrundlage dient eine Reihe von Berichten über die schwersten Basler Rheinhochwasser zwischen 1275 und 2007. Das Ziel ist die Beantwortung folgender Fragen: Wie und was wird über die Basler Hochwasser ge- schrieben? Welche Deutungsmuster lassen sich daraus ablesen? Und was sagt das über die Frage der Schuld aus? Um möglichst viel brauchbares Material für die Analyse zu liefern, wurden für die Beantwortung der Fragestellung erzählende oder erzählend-analytische Quellen verwendet, welche die Hochwasserereignisse aus einer zeitnahen und wenn möglich räumlich auf Basel beschränken Position schildern, das heisst Chroniken, Zeitungsberichte und – sobald vorhanden – vereinzelt auch naturwissenschaftliche Publikationen, sofern diese keinen quantitativen Ansatz vertreten.
Die Analyse der Quellen hat gezeigt, dass es zahlreiche rhetorische und inhaltliche Konstanten gibt, die sich durch die Beschreibungen der Basler Hochwasser ziehen. Dazu gehört zum Beispiel die Konzentration auf Infrastrukturschäden und Einschränkungen oder Unterbrüche von Mobilität und Kommunikation. Auch die Rhetorik der Gewalt, die sich in den etwas ausführlicheren Quellen ab dem 16. Jahrhundert belegen lässt, ist keine singuläre Erscheinung. Diese Beschreibungen, die mit Lexemen wie 'Wut', 'Zorn', 'Gewalt' und 'Macht' operieren, deuten die Hochwasser und die Natur als etwas Starkes, das den Menschen zumindest potenziell ständig bedroht. Weitere Erklärungen und Deutungen der Ereignisse betonen hauptsächlich meteorologische und hydrologische Aspekte, vor allem ab dem späten 14. Jahrhundert. Religiöse Deutungen hingegen, die ein Hochwasser mit dem Wirken Gottes in Zusammenhang bringen, kommen in den vorliegenden Quellen sehr selten vor. Deutungen, welche die Hochwasser im Einflussbereich des Menschen ansiedeln, liegen hingegen bereits für die hier untersuchten Hochwasser des späten 19. Jahrhunderts vor. Im Zusammenhang mit den beiden Hochwassern von 1999 und 2007 taucht dann auch der menschengemachte Klimawandel als Deutungsmuster auf.
Der Verweis auf den menschengemachten Klimawandel gibt dem Menschen die Mitschuld an den Hochwasserereignissen. Fragen zur Schuld sind zwar nicht in allen Quellen ein Thema. Der Mensch ist allerdings in allen Quellen, die überhaupt einen Hinweis auf Verantwortung oder Schuld liefern, der einzige Akteur, der für die Rolle des Schuldigen infrage kommt. Sogar wenn auf einen allmächtigen Gott verwiesen wird, liegt es im Handlungsspielraum des Menschen, eine allfällige Strafe mit tugendhafterem Verhalten abzuwenden. Selbst wenn die Natur als unberechenbar und zornig beschrieben wird, sind es Massnahmen des Menschen, welche die Auswirkungen natürlicher Prozesse mit ihren Eingriffen verstärken oder vermindern können.
Eine strikte Trennung und chronologische Abfolge verschiedener Katastrophen- und Naturverständ- nisse entspricht nicht den Befunden. Es kommt gerade in den Schilderungen der Hochwasser des 19., 20. und 21. Jahrhunderts zu einer Vermengung von Deutungsmustern. So wird die Natur als etwas Mächtiges, ja Übermächtiges geschildert, dem der Mensch grundsätzlich machtlos gegenübersteht. Gleichzeitig wird ihm dennoch die Macht zugesprochen, mit entsprechenden technischen Massnahmen etwas an dieser Situation zu ändern. So werden zum Beispiel Eingriffe in den Flusslauf gefordert, um weitere schwerwiegende Hochwasser zu verhindern; andererseits werden Eingriffe in die Natur kritisiert, weil sie zu den Überschwemmungen beitragen würden. Auch in der vermeintlich aufgeklärten Welt des 21. Jahrhunderts kommen neben der menschlichen Omnipräsenz und Omnipotenz, die sich über den Verweis auf den menschengemachten Klimawandel manifestiert, immer noch Schilderungen vor, welche die fast schon mystische Macht der Natur betonen.
Von Ohnmacht bis Omnipotenz. Wahrnehmung und Deutung der Basler Rheinhochwasser
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof. Dr.
Christian
Rohr
Institution
Historisches Institut, Universität Bern
Ort
Bern
Jahr
2011/2012
Abstract