Von Hamburg nach Singapur: Translokale Erfahrungen einer Hamburger Kaufmannsfamilie im Zeitalter der Globalisierung (1750-1914)

AutorIn Name
Marine
Fiedler
Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Kim
Siebenhüner
Kodirektion
Windler, Christian
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2020/2021
Abstract
Wie und in welchem Maß prägten die territorialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen globalen Integrationsvorgänge des «langen 19. Jahrhunderts» die Angehörigen einer Hamburger Kaufmannsfamilie? Inwiefern entstand bei ihnen angesichts der zunehmenden globalen Verflechtungen ein globales Bewusstsein? Dank eines an Selbstzeugnissen reichen Familienarchivs sowie weiterer Quellen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Singapur erforscht die Dissertation diese Fragen aus einer akteurszentrierten Perspektive im Rahmen einer Sozial- und Kulturgeschichte der Globalisierung. Anhand des Konzepts der Translokalität und dreier Forschungsachsen (Handel und Familie, Mobilität, Gemeinschaften) analysiert sie die Auswirkungen der Globalisierungsprozesse auf die Praktiken, Wahrnehmungen und Zugehörigkeiten der in Hamburg, Bordeaux und Singapur aktiven Kaufmannsfamilie Meyer im Spannungsverhältnis zwischen Mobilität und Lokalität. Indem sie bisher überwiegend getrennt behandelte Forschungsfelder – die transnationale, globale, Bürgertums-, Geschlechter- und Gefühlsgeschichte – zusammenführt, trägt sie zur schärferen Konturierung des bestehenden Bildes der Erfahrungen der Globalisierungsprozesse durch europäische bürgerliche Eliten bei. Im ersten Teil «Hamburg, der Atlantik, das Mittelmeer (1765 – 1840er Jahre)» werden mit einem Fokus auf Bordeaux die Verflechtungen der Meyer mit Westeuropa von der ersten Mobilitätserfahrung eines Familienmitglieds nach Frankreich bis zur allmählichen Auflösung dieser Verflechtungen nach den 1840er Jahren untersucht. Durch ihre Ansiedlung in einigen der für den Kolonialhandel wichtigsten Hafenstädte wie Hamburg, Bordeaux und Cádiz kamen die Meyer bereits zu diesem Zeitpunkt auch mit dem Globalen in Berührung: So konsumierten und handelten sie Produkte aus dem Kolonialhandel, starben an global grassierenden Epidemien, heirateten Frauen aus der französischen Karibik und verfolgten die Auswirkungen der Revolutionskriege auf den globalen Handel. Diese aus der Frühen Neuzeit geerbten globalen Verbindungen standen für die Familie Meyer indes nicht im Vordergrund. Der zweite Teil «Das Globale erfassen (1840er – 1860er Jahre)» verschiebt den Fokus auf die Entstehung neuer Verflechtungen mit der britischen Hafenkolonie Singapur. Erst mit der Etablierung einzelner Familienmitglieder in Singapur machten die Meyer die direkte Erfahrung des Globalen und gestalteten in Südostasien neue und vielfältige europäische koloniale Herrschaftsformen mit. Nach der Rückkehr nach Hamburg wurden diese Erfahrungen für den zurückgebliebenen Teil der Familie fassbar. Die Globalisierungsprozesse jener Zeit spannten den Rahmen der Erfahrungen der Meyer auf: die Entwicklung des globalen Handels, die transatlantischen Massenwanderungen, die neuen Wellen europäischer Expansion in Südostasien sowie die Revolution der Verkehrs- und Kommunikationsmittel. Allerdings interpretierten sie diese Phänomene nur selten als Teil neuartiger globaler Integrationsprozesse und maßen ihre Mobilitätserfahrungen in Südostasien vor allem an aktualisierten frühneuzeitlichen globalen Weltbildern. Schließlich befasst sich der dritte Teil «Das Globale verinnerlichen (1870er Jahre – 1914)» mit der bemerkenswerten Zunahme der Bedeutung globaler Verflechtungen seit dem späten 19. Jahrhundert, als immer mehr Familienmitglieder Mobilitätserfahrungen in entfernten Gebieten machten. Die Korrespondenz zwischen den auf der Erdkugel verstreuten Familienmitgliedern und die Zirkulation von Objekten führten zur zunehmenden thematischen und materiellen Präsenz des Globalen im Alltag, die gewiss zur Entwicklung eines globalen Bewusstseins beitrug, selbst bei jenen Familienangehörigen, die nicht mobil waren. Auch formierten sich die lokalen, regionalen und nationalen Zugehörigkeitsgefühle der Meyer zunehmend im Zusammenspiel mit dem Globalen. Zugleich wurden die globalen Integrationsvorgänge jener Zeit, abgesehen von spezifischen Momenten, weiterhin nur begrenzt als solche verstanden: Derartige Ausnahmen bildeten das Schicksalsgemeinschafts- und Gleichzeitigkeitsgefühl im Hinblick auf die entstehende Weltwirtschaft sowie die Angst vor einem durch die Konkurrenz der Großßmächte um die «Weltmacht» entfachten «Weltenbrand». Aus diesen Ergebnissen lässt sich schließen, dass die Wirkung der Globalisierungsprozesse und die bewusste Wahrnehmung dieser Prozesse sich deutlich voneinander unterschieden. Obwohl immer mehr Familienmitglieder von den globalen Integrationsvorgängen betroffen waren, lässt sich die Bedeutungszunahme des Globalen in vielen Fällen nur rückblickend fassen, während die betroffenen Generationen diese Entwicklungen nur selten und erst spät wahrnahmen oder thematisierten. Allerdings waren die Meyer der Integration der Welt gegenüber keinesfalls gleichgültig. Vielmehr deutet die vorliegende Studie auf eine thematische, zeitliche und räumliche Ausdifferenzierung bei der Wahrnehmung der Globalisierungsprozesse. Erstens bemerkten die Meyer die politischen, territorialen und wirtschaftlichen globalen Integrationsvorgänge mehr als die kulturellen. Zweitens war die Entstehung eines globalen Bewusstseins nicht linear. Drittens wurde in den meisten Fällen die Thematisierung globaler Integrationsvorgänge nur auf die Verbindungen zwischen bestimmten Regionen der Welt begrenzt. Erst im späten 19. Jahrhundert wurde die ganze Welt im Hinblick auf die Weltwirtschaft und einen möglichen Weltkrieg als eine Schicksalsgemeinschaft betrachtet. Diese Diskrepanz zwischen der zunehmenden Bedeutung des Globalen und der begrenzten Wahrnehmung des globalen Charakters der Integrationsprozesse beruht auf dem bestehenden Vorrang des Lokalen. Die Meyer handelten und dachten primär «translokal». Trotz der hohen Mobilität ihrer Angehörigen blieb die Familie fest im lokalen sozialen Gefüge der drei untersuchten Städte verankert. Die Spannung zwischen Bewegung und lokaler Verankerung wirkte sich dauerhaft auf die Praktiken, Wahrnehmungen und Zugehörigkeiten der mobilen ebenso wie nicht-mobilen Familienangehörigen aus. Der Vorrang des Lokalen bedeutete jedoch keinesfalls eine Beschränkung auf denselben. Als Produkt relationaler Beziehungen stand das Lokale im ständigen und gleichzeitigen Zusammenspiel mit dem Regionalen, dem Nationalen und dem Globalen. So gewannen das Nationale und Globale im Laufe des 19. Jahrhunderts für die Meyer an Bedeutung, ohne dass das Lokale seinen Platz als primären Denk- und Handelsrahmen verlor. Dies erklärt, warum die Globalisierungsprozesse trotz ihrer zunehmenden Bedeutung nur begrenzt als solche wahrgenommen wurden. Das Konzept der Translokalität ist also nicht nur als Perspektive nützlich, sondern ermöglicht zudem die Erfassung und Beschreibung konkreter historischer Phänomene und Prozesse. Bei der Wahrnehmung der Globalisierungsprozesse lassen sich schließlich Ausdifferenzierungen innerhalb der europäischen Eliten feststellen. Die Meyer entwickelten ein geringeres globales Bewusstsein als jene Schriftsteller, Nobelpreisträger, Historiker oder Soziologen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den historischen Wandel reflektierten und in ihren Schriften die kulturellen Integrationsvorgänge, die «Vernichtung von Raum durch Zeit», die Erweiterung der Möglichkeiten und die Verkleinerung der Welt thematisierten. Zugleich lässt sich aber vermuten, dass die Meyer als mobile und global tätige Kaufmannsfamilie die Integrationsprozesse stärker wahrgenommen haben als andere Angehörige des Stadtbürgertums. Mit diesen Ergebnissen leistet die vorliegende Dissertation als Projekt einer Sozial- und Kulturgeschichte der Globalisierung einen Beitrag zur schärferen Konturierung der Erfahrungen der Globalisierungsprozesse sowie zur Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Formen und Entwicklungsstufen eines globalen Bewusstseins innerhalb der europäischen Eliten.

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