Verletzte Körper. Eheliche Gewalt vor dem Luzerner Scheidungsgericht zu Beginn der 1940er Jahre

AutorIn Name
Sonja
Matter
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2003/2004
Abstract

Eheliche Gewalt ist seit den 1970er Jahren ein gesellschaftspolitisches Thema. Vorher wurde diese Gewaltform weitgehend tabuisiert. Da sich Gewalt zwischen Ehepaaren in der Regel in der privaten Sphäre der Wohnung abspielt, war die Öffentlichkeit nicht unmittelbar gezwungen, sich mit diesem Problemfeld auseinanderzusetzen. Dementsprechend finden sich für das beginnende 20. Jahrhundert nur wenige Quellen, in denen Hinweise über eheliche Gewalt auftauchen. Einer der seltenen Orte, an dem Eheleute über körperliche Gewalt sprachen, waren die Scheidungsgerichte. Konnten die Eheleute das Gericht überzeugen, dass sie in ihrer Ehe unter „schwerer Misshandlung“ litten, hatten sie das Recht, sich zu trennen oder scheiden zu lassen (Artikel 138 ZGB).

 

In der Arbeit wurden die Scheidungsfälle untersucht, die das Amtsgericht Luzern Stadt zu Beginn der 1940er Jahre zu beurteilen hatte. Es zeigt sich dabei, dass eheliche Gewalt kein Randphänomen war, sondern in mehr als einem Drittel der Fälle als Scheidungsgrund angegeben wurde. Dabei war das Sprechen über eheliche Gewalt stark geschlechtsspezifisch differenziert. Mehr als 30% aller prozessierenden Frauen wollten ihre Ehe wegen „schwerer Misshandlung“ scheiden lassen, während nur knapp 7% der Männer sich auf diesen Scheidungsgrund beriefen. Vor dem Scheidungsgericht trafen dabei unterschiedliche Vorstellungen aufeinander, wie eheliche Gewalt gedeutet werden sollte. Ziel dieser Arbeit war es herauszufinden, wie die verschiedenen Parteien – die Amtsrichter auf der einen und die prozessierenden Ehefrauen und Ehemänner auf der anderen Seite – den Begriff der „schweren Misshandlung“ verstanden, wo sie die Grenzen zwischen akzeptabler und inakzeptabler Gewalt zogen und welche Funktion sie ehelicher Gewalt zumassen.

 

Die Amtsrichter interpretierten eheliche Gewalt im Rahmen des Gesetzes, seiner Kommentierung und der bundesrichterlichen Praxis. Ihnen waren damit bestimmte Richtlinien vorgegeben, innerhalb derer sie eheliche Gewalt zu deuten hatten. Zum einen ist festzuhalten, dass das Zivilrecht kein ehemännliches Züchtigungsrecht mehr kannte, das die vorwiegend von Männern ausgeübte Gewalt gerechtfertigt hätte. Dagegen hatte sich im 20. Jahrhundert immer mehr die Norm durchgesetzt, nach der Konflikte unter Erwachsenen kraft ihrer Vernunft gewaltfrei gelöst werden müssten. Allerdings stand die Norm, die einen grundsätzlich gewaltfreien Umgang forderte, in einem nicht aufzulösenden Spannungsverhältnis zur sekundärpatriarchalen Ehestruktur, die im Zivilgesetzbuch verankert war. An dieser hielten die Luzerner Amtsrichter fest und liessen keine Alternative zur hierarchischen Geschlechterordnung unter männlicher Vorherrschaft zu. Vor diesem Hintergrund bekam die Deutung männlicher Gewalt jedoch einen ambivalenten Charakter. Körperliche Gewalt wurde zwar abgelehnt, trotzdem war es möglich, ihr unter Umständen Verständnis entgegen zu bringen. Besonders wenn Frauen „rechthaberisch“ waren oder durch ihr „böses Maul“ die Hierarchie der Geschlechterordnung zu kippen drohten, schien es den Richtern durchaus nachvollziehbar, dass ein Ehemann gewalttätig reagierte. In diesem Fall wurde den Ehefrauen denn auch das Recht abgesprochen, die Ehe wegen „schwerer Misshandlung“ scheiden oder trennen zu lassen.

 

In der Beurteilung der ehelichen Gewalt hielten sich die Luzerner Amtsrichter an die ältere juristische Lehre, wie sie um die Jahrhundertwende vertreten wurde. Demnach legitimierten nur diese Gewaltformen eine Scheidung oder Trennung, die geeignet waren, die Gesundheit erheblich zu gefährden. Schläge und Fusstritte galten demgegenüber nur als „Rohheiten“ und berechtigten die Opfer nicht zur Scheidung oder Trennung, auch wenn sie monateoder jahrelang unter diesen Gewaltformen gelitten hatten. Des weiteren stellten die Richter bei ehelicher Gewalt hohe Anforderungen an die Beweisführung und verlangten in der Regel, dass Augenzeugen die häusliche Gewalt bestätigten. Das Ergebnis dieser Praxis war, dass die Richter in den Jahren 1940, ’42 und ’44 nur gerade in sechs Fällen eine Ehe wegen „schwerer Misshandlung“ schieden, während sich in über 70 Prozessen Ehefrauen auf diesen Scheidungsgrund beriefen. Bei keinem anderen Scheidungsgrund unterschied sich die begriffliche Interpretation des Gesetzestextes der Richter so sehr von derjenigen der prozessierenden Frauen.

 

Für die Eheleute überschritten im Gegensatz zu den Vorstellungen der Luzerner Richter, die sich an die schweizerische Judikatur und Gerichtspraxis anlehnten, Schläge und Tritte die Grenzen des „Normalen“. Diese Gewaltformen, die primär Männer über einen längeren Zeitraum immer wieder gegenüber ihren Frauen ausübten, gefährdeten nach der Erfahrung der Frauen ihre körperliche Integrität und bewirkten nachhaltige körperliche Schmerzen. Vor Gericht wurde über die Schmerzen zwar nicht gesprochen, da sie sich einer sprachlichen Objektivierung weitgehend entzogen. So berichteten die Ehefrauen in erster Linie von den ihnen zugefügten Wunden – den blauen Flecken, den Schwellungen, Quetschungen – und klammerten die Schmerzerfahrung aus. Es war jedoch nicht zuletzt der schmerzende Körper, der die Fortführung der ehelichen Gemeinschaft unmöglich machte.

 

Aus den Schilderungen der prozessierenden Eheleute wird deutlich, dass eheliche Gewalt nicht gleichzusetzen ist mit unkontrollierten Wutausbrüchen oder Affekthandlungen, die sich jenseits der Kultur abspielen. Eheliche Gewalt ist zu verstehen als menschliches Handeln, das eingebunden ist in ein Geflecht von kulturellen Bedeutungen und das bestimmte Funktionen zu erfüllen vermag. So geht aus zahlreichen Scheidungsprozessen hervor, dass Gewalt bei der Aushandlung von Machtpositionen in einer Geschlechterbeziehung eine zentrale Funktion einnahm. Die männliche Vormachtstellung, die das Zivilgesetzbuch festschrieb, liess sich in einer Geschlechterbeziehung nicht reibungslos umsetzen. Die Geschlechterhierarchie musste in der individuellen ehelichen Beziehung in einem ständigen Prozess ausgehandelt und umgesetzt werden. Dabei gefährdete besonders eine als fragil empfundene Männlichkeit die Machtbalance in ehelichen Beziehungen. Die im Familiendiskurs der 1930er und 1940er Jahre vermittelten Ideale von Männlichkeit und Weiblichkeit konnten vielfach nicht erfüllt werden, was zu einer spezifischen Konflikthaftigkeit ehelicher Beziehungen führte. Diese wurden nicht zuletzt durch Gewalt zu lösen versucht.

 

Festzuhalten bleibt, dass nicht nur vor dem Scheidungsgericht im Luzern der frühen 1940er Jahre eheliche Gewalt kaum negativ sanktioniert wurde. In der ideologischen Vorstellung eines privaten, vom öffentlichen getrennten Bereichs fungierte die Familie als Ort der Geborgenheit und des Friedens, der vor staatlichen Interventionen geschützt sein sollte. Grundsätzlich verfolgte der Staat daher die Maxime, in eheliche Beziehungen nicht einzugreifen, und so trat auch die Polizei nur schlichtend und vermittelnd auf.

 

Interventionen in durchaus drastischer Form schienen dagegen bei vermeintlich idealtypischen Gewalttätern gerechtfertigt, die sich nebst der Gewalttätigkeit durch ihren übermässigen Alkoholkonsum und ihren „liederlichen Lebenswandel“ auszeichneten.

 

Die Arbeit wird in der Reihe „Berner Forschungen zur Neuesten Allgemeinen und Schweizer Geschichte“ vom Verlag Traugott Bautz publiziert (www.bautz.de).

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