Verdingkinder. Kindswegnahmen durch das Jugendamt Bern 1945-1960

AutorIn Name
Marco
Finsterwald
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2005/2006
Abstract

Bis in die 1960er Jahre sind schätzungsweise über 100’000 Kinder fremdplatziert worden, einige Tausend ohne Einverständnis ihrer Eltern. 1955 hatte alleine die Stadt Bern 1’413 durch die Behörde versorgte Kinder. Die zuständigen Organe begründeten die Kindswegnahmen mit der Gefährdung der jeweiligen Kinder, wobei die Kindswegnahmen meistens auf der rechtlichen Grundlage der 1912 erlassenen Artikel 283-285 des Zivilgesetzbuches (ZGB) erfolgten. Mit der Einführung dieser ZGB-Artikel konnten die Behörden erstmals ohne armenrechtlichen Grund in die Familie „eindringen“ und wenn nötig die Kinder wegnehmen. Damit wurde die Erziehung der Kinder und die Jugendfürsorge zu einer öffentlichrechtlichen Angelegenheit.

 

Das städtische Jugendamt ist ab 1921 jene Institution in Bern, welche sich der Jugendfürsorge und den Erziehungsfragen annehmen und die Artikel 283-285 ZGB in die Tat umsetzen sollte. Die zuständigen Beamten betraten in der Ausübung dieser Artikel Neuland, denn ob eine Erziehung zumutbar, bzw. gefährdend war oder nicht, liess sich nicht so einfach nach objektiven Kriterien feststellen. Die Behörden mussten aufgrund äusserer Zeichen und Anhaltspunkte (z.B. körperliche Konstitution, Krankheiten, aber auch Lebensweisen) auf die Qualität der Kindererziehung schliessen. Der Prozess der Kindswegnahme stellt daher auch einen Aushandlungsprozess aller Beteiligten über die „richtige“ Erziehung dar.

 

In der Arbeit werden zwölf Dossiers von Bümplizer Familien des Jugendamts Bern zwischen 1950 und 1960 untersucht, und die dabei erfolgten Kindswegnahmen im Hinblick auf die Erziehung und die Praxis der Jugendfürsorge rekonstruiert. Die in den Dossiers dokumentierten Kindswegnahmen reflektieren nicht nur den Akt der Kindswegnahme selbst, sondern stehen für Machtansprüche, die weit über den eigentlichen Wegnahmeentscheid hinausgehen. Sie stellen eine interpretierte soziale Wirklichkeit aus Sicht der Behörde dar, die Thematiken wie Erziehung, Geschlechterordnung, Armut und Alltag erschliessen. Mit der Rekonstruktion der Kindswegnahme wird daher versucht, jene gesellschaftlichen, geschlechterspezifischen Normen und Ansprüche der Behörde zu ergründen, welche unter dem Argument der „Gefährdung“ ihren Ausdruck fanden.

 

Die daraus hervorgehende Fragestellung für die Arbeit ist: Wie kann die „Gefährdung“ der betroffenen Kinder näher definiert werden? Welche Regelverstösse und Normverletzungen führten zu jugendamtlicher Aufsicht der Kinder? Wie kann das Vorgehen des Jugendamtes und jenes der Fürsorgerinnen beschrieben werden und welche Handlungsspielräume hatten diese? Welche Möglichkeiten nutzten die Eltern im Kampf gegen die Kindswegnahme?

 

Diese Kernfragen werden in der Arbeit aus drei unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, welche zugleich auch die Struktur der Arbeit sind. In einem ersten Kapitel wird der rechtliche und administrative Kontext der behandelten Praxis dargestellt und zwar im Zusammenhang mit dem Berner Armenund Niederlassungsgesetz von 1897 und dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch sowie dem Schweizerischen Strafgesetzbuch und den Bestimmungen auf Gemeinde-, Kantonsund Bundesebene.

 

Die beiden darauf folgenden Kapitel stellen die behördliche Entwicklung der Jugendfürsorge und die Schwierigkeit der Kompetenzenund Zuständigkeitsregelung zwischen Jugendamt und Jugendanwaltschaft, bzw. Jugendamt und Pflegekinderaufsicht dar. Ebenso wird der Diskurs über die „gefährdete Jugend“ sowie seine Umsetzung in der Praxis der Fürsorgerinnen in den Jahren nach 1945 unter die Lupe genommen.

 

Im fünften Kapitel sind die Dossiers von zwölf unter damals jugendamtlicher Aufsicht stehenden Familien in Bümpliz bearbeitet worden. Das Kapitel entspricht in seiner Gliederung dem Fremdplatzierungsprozess. Es beginnt mit der Analyse der Gefährdungsabklärung durch die Fürsorgerinnen und Experten, geht über zu den Handlungsspielräumen der Betroffenen, zeigt Möglichkeiten des elterlichen Widerstandes gegen die Kindswegnahme und stellt − nach erfolgter Fremdplatzierung des Kindes − das Verhältnis zwischen Fürsorgerin und dem Pflegeplatz (Pflegeeltern und -kind) vor. Die Arbeit zeigt auf, dass die auf einer „individualisierenden Fürsorge“ basierende Fremdplatzierung aufgrund individueller, subjektiver Einschätzungen der Fürsorgerinnen und Experten erfolgte. Jede Begegnung zwischen Fürsorgerin und Hausfrau, bzw. deren Kinder konnte konkrete Auswirkungen auf die Beurteilung der Gefährdung haben. Die Argumente für oder wider eine Fremdplatzierung basieren auf einem zeitgenössischen Gefährdungsbegriff, welcher stark von Normen der Geschlechterund Familienrolle geprägt ist, und glich einer Generalklausel, mit welcher fast alle Norm- und Regelverstösse und entsprechenden Fürsorgemassnahmen begründet und abgedeckt werden konnten.

Zugang zur Arbeit

Bibliothek

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