Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Gerlach
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2017/2018
Abstract
Am 15. Januar 2015 hebt die Schweizerische Nationalbank unerwartet den im September 2011 eingeführten Euro-Mindestkurs auf, was den Schweizer Franken innerhalb weniger Minuten um 15 % aufwertet. Der Entscheid stiftet Verwirrung und Unsicherheiten: Spaltungen in der ökonomischen wie auch der politischen Landschaft treten offen zutage. Nicht nur zwischen Lohnabhängigen und Unternehmern beziehungsweise deren jeweiligen Vertretern werden gegensätzliche Interessen offenbar – auch innerhalb der dominierenden Klassen, zwischen den einzelnen Klassenfraktionen, herrscht Uneinigkeit. Während die einen den Entscheid bejubeln, äussern die anderen Bedenken und fordern umgehende Gegenmassnahmen seitens der Nationalbank. Wieder andere versuchen, die instabile Situation für eine politische Wende – insbesondere zur Durchsetzung neoliberaler Programme – zu nutzen.
Auch wenn die Unabhängigkeit der Schweizerischen Nationalbank verfassungsrechtlich festgeschrieben ist, bleibt sie in Wirklichkeit kaum frei von Einflüssen: Welche Personen werden beispielsweise in den Bankrat oder das Direktorium gewählt und wieso? Welche Laufbahnen haben sie hinter sich und welcher Ideologie fühlen sie sich verpflichtet? Verfolgen sie Eigeninteressen? Und wenn ja, welche? Es zeigt sich, dass an den entscheidenden Stellen für die Schweizerische Währungspolitik fast ausschliesslich ehemalige und künftige Privatbanker, Vermögensverwalter, CEOs transnational operierender Grosskonzerne, Mitglieder liberaler Denkfabriken und Verbände sowie Vertreter liberaler oder rechtskonservativer Parteien sitzen.
Abgesehen davon findet zwischen den entscheidenden Personen der Nationalbank und der Wirtschaft ein reger Austausch statt. Im Rahmen zahlreicher, teils höchst exklusiver Anlässe wie Geldmarkt-Apéros, Podiumsdiskussionen, Wirtschaftsforen oder Generalversammlungen für Aktionäre treffen Bankräte auf Privatbanker oder CEOs aus der Pharma- und Versicherungsbranche. Freilich bestehen auch Kontakte zwischen Notenbankern und etwa Gewerkschaften. Aber sind diese gleichermassen ausgeprägt? Unternehmen, Branchen, Einzelpersonenen und Verbünden aus den dominierenden Klassenfraktionen gelingt die Organisation und Durchsetzung ihrer Interessen besser als anderen. Wem gelingt es in welcher Form, Einfluss auf währungspolitische Entscheide zu nehmen? Zur Beantwortung dieser Fragen ist nicht nur der Austausch über persönliche Zusammentreffen entscheidend – auch der Austausch über die Öffentlichkeit, also etwa die Publikationstätigkeit von Verbänden, Verbünden und einzelnen Unternehmen beziehungsweise Unternehmern wird in den Fokus der Forschung gerückt. Und auch strukturelle Verflechtungen bilden, wie bereits angedeutet, einen wesentlichen Teil der Untersuchung. Dabei werden nicht nur personalpolitische Entscheidungen und persönliche Interessenbindungen, sondern auch grundlegende Verschränkungen von Staat und Wirtschaft thematisiert und in Zusammenhang mit längerfristigen und global wirkenden P gestellt.
So hat sich etwa im Zuge der Herausbildung eines postfordistischen Akkumulationsregimes die Funktion der Finanzministerien und Zentralbanken wesentlich verändert. Mittels einer Vielzahl von gesetzgeberischen Massnahmen wurden innerhalb der letzten Jahrzehnte erfolgreich die Bedingungen für einen globalen Finanzmarktkapitalismus geschaffen. Dass die nationale Währungspolitik damit der demokratischen Kontrolle entzogen wurde, hat aber ihre Bedeutung keineswegs geschmälert – nur die Machtverhältnisse haben sich verschoben. Die Steuerung des Geld-, Kredit- und Devisenverkehrs gerät immer stärker in die Hände privater Banken und unterliegt damit zunehmend deren kurzfristigen und spekulativen Profitinteressen. Diese Entwicklung spiegelt sich über weite Strecken auch in den Formen des Austausches zwischen Schweizer Wirtschaft und Schweizerischer Nationalbank.
Als Quelle dient der Arbeit alles, was vom Aufeinandertreffen von Vertretern aus der Wirtschaft und Mitgliedern der Schweizerischen Nationalbank zeugt. Im Rahmen organisierter Anlässe sind das etwa Referate von Podiumsdiskussionen, Flyer für Wirtschaftsforen oder Fotogalerien von Geldmarktapéros. Weiter werden zur Betrachtung des Austausches über die Öffentlichkeit und den Überlegungen zum strukturell angelegten Austausch von Staat und Wirtschaft Publikationen von Verbänden, Denkfabriken und anderen Interessenorganisationen hinzugezogen. Ausserdem dienen von der Nationalbank selbst zur Verfügung gestellte Lebensläufe ihrer Mitglieder der Aufdeckung persönlicher Interessenbindungen und Verflechtungen.
Die zur Beantwortung der gestellten Leitfragen hinzugezogene Literatur kann grob unter dem Begriff „materialistische Staatstheorie“ zusammengefasst werden. Diese besticht mit präziser Darstellung komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge und analytischer Tiefe, weist aber auch einen sehr hohen Abstraktionsgrad auf und lässt oft Bezüge zu realpolitischen Ereignissen und Entwicklungen vermissen. Insofern kann die Arbeit auch als ein Versuch gelesen werden, abstrakte Theorie und einfache Empirie zu vermitteln.