Gegenstand der Untersuchung sind weibliche Kindheitserinnerungen an die ausgehenden 1930er Jahre in der tschechoslowakischen Podkarpatská Rus, wobei die Innenperspektiven auf die sozioökonomischen Realitäten und Lebensentwürfe von Frauen unterschiedlicher ethnischer, sozialer und sprachlicher Herkunft untersucht werden.
Im Rahmen des Friedensvertrags von Trianon wurde im Jahr 1920 Transkarpatien (Zakarpattja) der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918 – 1938) zugeschlagen. Das Machtzentrum in Prag wollte die damals als ökonomisches Hinterland verstandene Region, die unter tschechoslowakischer Oberhand den Namen „Podkarpatská Rus‟ tragen sollte, nicht nur politisch in das Land integrieren. Das rural geprägte Gebiet am Fusse der Karpaten sollte auch ökonomisch mit dem wirtschaftlich stärkeren, tschechischen Teil des Landes gleichziehen. Unter dem Vorwand, die Region entwickeln und demokratisieren zu müssen, leitete Prag ein umfassendes Modernisierungsprogramm ein, darunter Reformen in der Landwirtschaft, im Bildungssektor und in der lokalen Verwaltung. Im Zuge dessen wurden tschechische Polizisten, Beamt:innen, Lehr- und Fachkräfte in die Region gesandt. Manche Tschech:innen migrierten aus eigener Initiative in die Podkarpatská Rus, um dort eine Existenzgrundlage aufzubauen.
Die bisherige Forschung hat sich auf die Makrogeschichte der Region konzentriert. Mikrohistorische Ansätze zur Podkarpatská Rus fehlen in der gegenwärtigen Forschungslandschaft jedoch weitgehend. Zudem ist die Geschichtsschreibung von männlich generierten Quellen geprägt. Neben mikrohistorischen Einblicken in den Alltag der Menschen in der Podkarpatská Rus im Allgemeinen fehlen insbesondere weibliche Stimmen. Die Masterarbeit greift somit gleich mehrere Forschungslücken auf und plädiert für neue methodische Zugänge zur Erschliessung der Geschichte der Podkarpatská Rus.
Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die Innenperspektiven von Frauen, die ihre Kindheit und Jugend in der Podkarpatská Rus in den späten 1930er Jahren verbracht haben. Als Quellenmaterial dienen einerseits Interviews mit Zeitzeuginnen in tschechischer Sprache mit ukrainisch/ ruthenischen bzw. russinischen, deutschen, jiddischen, russischen und ungarischen Lehnwörtern, andererseits retrospektiv verfasste, publizierte und unpublizierte Selbstzeugnisse in tschechischer, deutscher und englischer Sprache. Der Quellenkorpus berücksichtigt somit Zeugnisse von zwölf Frauen unterschiedlicher ethnischer, religiöser, sozioökonomischer und sprachlicher Herkunft und bildet damit ansatzweise die Vielfalt der damaligen Bevölkerung in der Region ab. Berücksichtigt werden Frauen tschechischer, ukrainischer, ungarischer, russischer/ruthenischer, jüdischer, griechisch-katholischer, katholischer und protestantischer Herkunft. Weitere weibliche Stimmen fehlen in der Quellensammlung aufgrund fehlender Quellenzeugnisse in Archiven und Datenbanken oder aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse der Autorin.
Thematisch werden die retrospektiv produzierten Quellen durch das Untersuchungsprisma der sozioökonomischen Verhältnisse betrachtet. Die Erinnerungen der Zeitzeuginnen an ihre Kindheit und Jugend werden mit statistischem Quellenmaterial aus der Zeit kontextualisiert.
Die Quellen werden anhand der Theorien der Oral History und dem Konzept der Lebenswelten methodisch erschlossen. So können einerseits subjektive, retrospektive Wahrnehmungen über das Leben in der Podkarpatská Rus abgeleitet werden, andererseits werden die unterschiedlichen Einschätzungen miteinander verglichen, wodurch – mit den Quellen aus dem Untersuchungszeitraum als Referenzpunkt – Rückschlüsse auf die damaligen Lebensrealitäten, Bildungschancen und Berufe, Wohnverhältnisse und soziale Mobilität gezogen werden können.
Die vorliegende Masterarbeit leistet somit Grundlagenforschung zu den sozioökonomischen Realitäten der weiblichen Bevölkerung der Region in den späten 1930er Jahren in Kindheitserinnerungen. Im Mittelpunkt stehen die sozioökonomischen Verhältnisse in den Familien und die Lebenswelten der Zeitzeuginnen in ihrer Kindheit. Aber auch die ethnisch-sprachliche Vielfalt der Bevölkerung wird thematisiert, denn sie prägte die Region. Weibliche Berufsfelder werden anhand der Tätigkeiten der Mütter der Zeitzeuginnen aufgegriffen. Bildungschancen und berufliche Perspektiven werden ebenfalls angeschnitten. Ein Kapitel ist der sozialen Segregation in der Kleinstadt Rachiv gewidmet. Familienstrategien, Aufund Abstiegsgeschichten und die soziale Mobilität in der Region finden besondere Beachtung.
Damit wurde nicht nur der Grundstein für eine Mikrogeschichte der Podkarpatská Rus auf der Basis weiblicher Quellen gelegt. Es wurden auch die Erinnerungen von Frauen aus unterschiedlichen Umfeldern unter Berücksichtigung ihrer multiplen Identifikationen und sozioökonomischen Hintergründe herausgearbeitet.