Das Feuer von Hamburg 1842 und das Feuer von Glarus 1861 gelten als Schlüsselereignisse im Bereich der Versicherungsindustrie. Beide Grossbrände führten zur Gründung von Rückversicherungsgesellschaften, der Kölner Rück – dem weltweit ersten selbständigen Rückversicherungsunternehmen – und der Schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft (heute Swiss Re). In beiden Fällen waren das ungenügende Risikomanagement sowie die zu geringe Risikoverteilung treibende Faktoren für die Geburt der neuen Versicherungsbranche.
Risiko und der Umgang der Versicherungsindustrie mit diesem Zentralkonzept stehen im Zentrum der Lizentiatsarbeit. Durch das „Auge“ der Swiss Re Feuerbranche wird anhand von Primärquellen aus dem Swiss Re Firmenarchiv das Risikomanagement des Schweizer Rückversicherers nach einschneidenden Verlusten beleuchtet. Die leitende These ist, dass der „objektive“ Risikobegriff der Versicherungstheorie relativ ist, insofern die Definition von Risiko nach einem Verlustereignis neu ausgehandelt und angepasst wird (risk-shaping). Auf der Grundlage dieser These und der Daten der aussergewöhnlich dicht belegten Fallstudie des Feuers von Sundsvall 1888 wurde der Risikobegriff auf fünf Ebenen aufgefächert. Die einzelnen Segmente bezeichnen die Beteiligten im (Rück)Versicherungssystem und ermöglichen die Sichtbarmachung der Formation von Lobbygruppen und der Risikokommunikation auf und zwischen den verschiedenen Ebenen.
Im Zusammenhang mit der Feuerbranche und dem Feuerrisiko rückt der Klima-Aspekt ins Blickfeld. Von besonderem Interesse sind dabei Berichte der Quellen über sich räumlich weit erstreckende heisse und trockene Wetterperioden, die für den Rückversicherer in zum Teil schweren Verlusten durch Kumulschäden resultierten. Rückversicherungsgesellschaften verhindern solche Grossschäden in der Regel durch das Grundprinzip der breiten geographischen Streuung ihrer Risiken. In den Swiss Re Quellen treten jedoch Fälle zutage, in welchen diese Art des Risikomanagements offenbar durch klimatische warm/trocken Anomalien ausgehebelt wurde. Dass es sich effektiv um letztere handelte, konnte mit Hilfe zeitgenössischer Messdaten (monatlicher Temperaturund Niederschlagsdaten) eruiert werden.
Über die Verbindung von Feuer und seinen klimatischen Vorbedingungen wird eine zweite zentrale These dieser Arbeit deutlich, nämlich, dass es sich bei Feuer letztlich ebenso um eine „Natur“-Katastrophe handelt, wie bei Sturm oder Überschwemmung, und dass ein ausschliesslicher Fokus auf den Auslöser von Feuern für eine Kategorisierung analytisch zu kurz greift.
Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird ein Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung der Swiss Re Feuerbranche zwischen 1864 und 1906 gegeben. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei der Erweiterung des Vertragsnetzwerks der Feuerbranche zu.
Im zweiten Teil wird, gemäss der zweiten Hauptthese, die Frage behandelt, ob und inwiefern Feuer eine «Natur»-Katastrophe ist – ein Punkt der weder unter Stadthistorikern, historischen Katastrophenforschern noch unter (Rück-)Versicherern geklärt zu sein scheint. Im Weiteren werden ausgewählte Swiss Re „Wetterberichte“ aus den Geschäftsberichten den zu diesen Jahren generierten Klimarekonstruktionen gegenübergestellt und analysiert. In den Fallstudien (das Feuer von Sundsvall 1888 und das Erdbeben und Feuer von San Francisco 1906) im dritten Teil der Arbeit, liegt der Fokus auf der Formation von Rückversicherungslobbygruppen nach Schadensereignissen. Diese werden anhand überlieferter Korrespondenz «in Aktion» untersucht. So können konkrete Fälle des risk-shaping und ihre Auswirkungen auf die Versicherer sowie die Versicherten veranschaulicht werden. Die Analyse der Expansion des Vertragsnetzwerks im ersten Teil ergab, dass die Zedenten der Swiss Re bis zum Beginn der 1890er Jahre in der Hauptsache aus der Schweiz und den umliegenden Nachbarländern stammten. In der Verteilung ihrer rückversicherten Risiken war die Swiss Re hingegen schon um 1864 ein globales Unternehmen, mit Versicherungsobjekten in Bombay, Kalkutta und Yokohama. Ergebnis der Analyse der Swiss Re «Wetterberichte» im zweiten Teil war die Identifikation zweier verschiedener Kumulschadenstypen und ein mit ihnen korrespondierendes Risikomanagement. Aus den Untersuchungen des ersten und dritten Teils kristallisierten sich zudem zwei voneinander abhängige und sich überlappende Soziosphären der (Rück-)Versicherungsbranche heraus: Eine übergreifende Sphäre der (schon bestehenden) persönlichen Netzwerke der Direktoren korrelierte oft auch mit «ad-hoc»-Netzwerken (Lobbygruppen), die sich in grösseren Schadensfällen zu deren Regulierung bildeten.
The Swiss Re Fire Branch 1864-1906. Risk – Fire – Climate
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2008/2009
Abstract