Stürme, Seuchen, Spekulan-ten. Antike Beurteilungen der Ursachen von Versor-gungsengpässen in Rom

AutorIn Name
Thomas
Gartmann
Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof. em.
Thomas
Späth
Kodirektion
Prof. Dr. Paul Erdkamp, Brüssel
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2022/2023
Abstract

Am Anfang dieser Dissertation stand die Beobachtung von drei Paradoxa, die bei der Lektüre der Werke von antiken Historiografen und Biografenauffallen:Erstenshabenbesondersdie„guten“ Kaiser ständig mit schlechtem Wetter zu kämpfen, zweitens wird das gewaltige Versorgungssystem regelmässig durch ein sehr überschaubares Problem zu Fall gebracht und drittens – und dies ist zugleich die Hauptthese – erwähnen die antiken Autoren zwar immer wieder Versorgungsprobleme, scheinen sich dafür aber gar nicht wirklich interessiert zu haben.

Um diese Paradoxa zu erklären, galt es, das Korpus der Quellenstellen zu konstituieren und Methoden der Auswertung zu entwickeln, die Bedingungen einer funktionierenden Versorgung zu rekonstruieren, die überlieferten Probleme zu sortieren und die Muster hinter den entsprechenden Überlieferungen offenzulegen. Eingrenzungen waren für die Umsetzung unabdingbar: Die Dissertation konzentriert sich erstens auf die antiken Geschichtswerke, zweitens (aufgrund der verfügbaren Quellen) auf die Hauptstadt Rom und drittens auf die Zeit von der mythischen Gründung Roms (753 v. Chr.) bis zum Ende der Severischen Dynastie (235 n. Chr.). Als Methode wurde sowohl ein diskursanalytischer als auch ein praxeologischer Zugang gewählt. Grundlage für die Auseinandersetzung mit einem breiten Spektrum an Versorgungsproblemen ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen für eine funktionierende Getreideversorgung Roms in fünf Bereichen: Bevölkerung, Landwirtschaft, Ernährung, Logistik und Institutionen.

Zur Erklärung von Krisen führten die Geschichtswerke Beeinträchtigungen durch äussere Feinde besonders prominent an, aber auch Bürgerkriegsakteure spielten eine wichtige Rolle. Im zivilen Bereich traten vor allem mächtige Individuen als Verursacher von Versorgungskrisen in Erscheinung – und zwar primär dann, wenn diese Figuren sich bei den literarisch tätigen Kreisen ihrer Zeit unbeliebt gemacht hatten. Beispiele sind insbesondere Caligula und Nero, aber auch Saturninus und Cleander. Eine Kategorie von Problemen ohne (angebliche) Schuldige stellten Elementarereignisse dar. Während bei Stadtbränden oder religiösen Erklärungen von Versorgungskrisen menschliche Akteure unter Umständen noch verantwortlich gemacht werden konnten, galt dies für Erdbeben, Dürren oder Stürme nicht. Am häufigsten hatte Rom offenbar mit Überschwemmungen zu kämpfen, aber auch Grossbrände waren immer wieder ein Problem. Die Auswirkungen solcher Ereignisse auf die Versorgung bleiben in den erhaltenen Quellen aber oft implizit. Unter den komplexeren Erklärungen, welche die antiken Autoren für Versorgungsprobleme in Rom anzubieten hatten, kam den Seuchen besondere Bedeutung zu. Seuchen konnten sowohl eine Ursache als auch eine Folge von Hunger sein – und daher mitunter in einen Teufelskreis führen.

Während die antiken Autoren in aller Regel einfache Erklärungen mit klaren Schuldigen oder zumindest geradlinigen Ursachen bevorzugten, gibt es durchaus einige Quellenpassagen, in denen durchscheint, wie komplex das römische Versorgungssystem eigentlich war. Dies wurde dadurch deutlich, dass eine Kombination von Problemen oder eine Kette von Ereignissen beschrieben wurde, die letztlich zu einer Versorgungskrise führten oder zumindest eine solche enthielten. Andererseits gibt es vereinzelt auch Quellenstellen, in denen mehrere mögliche Ursachen von Versorgungsproblemen einander gegenübergestellt oder gegeneinander abgewogen wurden.

Auf narrativer Ebene lassen sich fünf mögliche Funktionen ausmachen, welche die antiken BerichteüberVersorgungskrisenerfüllenkonnten: Die erste und häufigste Funktion war die „Illustration von Kriegen“. Die „moralische Charakterisierung“ war nur zum Teil damit verknüpft und ebenfalls verbreitet. Zur „Erklärung von Veränderungen“ wurden Versorgungkrisen dagegen nur selten herangezogen – im Gegensatz zu Seuchen. Auch als „Memorabilia“ – als erinnerungswürdig betrachtete Ereignisse – traten Versorgungskrisen kaum in Erscheinung. Wieder häufiger wurden Versorgungsprobleme im Rahmen von „Krisenclustern“ behandelt. Dabei wird deutlich, dass der Fokus der antiken Autoren auf Ereignissen lagt, welche die römische Elite und damit mitunter die Autoren selbst betrafen. Daraus ergibt sich, dass es zweifellos Versorgungskrisen im antiken Rom gegeben hat, die von den Historiografen nicht oder zumindest nicht direkt überliefert worden sind, weil sie ihnen als irrelevant erschienen. In einigen Fällen sind diese ungenannten Krisen aber dennoch fassbar – etwa, wenn in der Überlieferung auffällige Lücken zu finden sind, obwohl die Rahmenbedingungen oder besondere Umstände das Auftreten von Krisen nahelegen würden.

Die antiken Autoren hatten zudem die Tendenz, sich eher auf episodische Versorgungskrisen mit einschneidenden politischen Konsequenzen zu konzentrieren als auf strukturelle, die durch das Zusammenspiel einer Fülle von unscheinbaren Faktoren zustande kamen. Dies entsprach einerseits ihren Interessen als Angehörige der römischen Elite und andererseits ihren Darstellungsabsichten als Geschichtsschreiber oder Biografen. Nicht zuletzt war die Konzentration auf episodische Hungersnöte aber auch spektakulärer – und weniger kompliziert. Dass das Augenmerk bei Versorgungsproblemen primär auf Versorgungsengpässen und nicht auf einem möglichen Anspruchsversagen lag, war allerdings bis vor wenigen Jahrzenten auch unter modernen Historiker:innen die Norm.

Die Dissertation kann vor allem drei Dinge aufzeigen: Erstens lohnt es sich, antike Versorgungprobleme in einem breiten Sinne zu untersuchen und die unterschiedlichen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, die sich zudem im Laufe der Zeit erheblich veränderten. Nur so lassen sich die vielfältigen Zusammenhänge auf allen Ebenen erkennen, und nur so lässt sich das Gewicht der einzelnen Faktoren angemessen beurteilen.

Zweitens war die Versorgung der antiken Metropole Rom spätestens ab der späten Republik eine gigantische Herausforderung, die sich selbst unter den besonders günstigen Voraussetzungen der frühen Kaiserzeit bestenfalls in einem labilen Gleichgewicht befand. Die Liste von möglichen Beeinträchtigungen ist lang und variantenreich: von feindlichen Heeren und Bürgerkriegsakteuren über sorglose Kaiser und gierige Spekulanten bis hin zu Stadtbränden, Hochwassern und Seuchen. Und obwohl sich entsprechend der Zeitumstände die typischen Probleme verschieben – tendenziell einerseits von der Produktion zur Logistik und andererseits von Latium auf das Mittelmeer und in die Provinzen – wird bei genauerem Hinsehen deutlich, dass die überlieferten Ursachen von Versorgungsproblemen oft in erheblichem Masse mit den Präferenzen der Geschichtsschreiber zusammenhängen.

Drittens konzentrieren sich diese Präferenzen stark auf Rom und insbesondere die dortige Oberschicht und deren Lebenswelt. Die einfachen Leute (und erst recht Frauen, Unfreie usw.), die Landbevölkerung und die Provinzialen – mit ihren jeweils eigenen (Versorgungs-)Problemen – blitzen in den literarischen Quellen dagegen nur selten auf. Für komplexere administrative oder logistische Schwierigkeiten hielt sich das Interesse der Historiografen als auch der Biografen zudem sogar dann in engen Grenzen, wenn sie unmittelbar die Versorgungssicherheit der Metropole betrafen.

Als Folge davon ist das heute rekonstruierbare Bild der antiken Versorgungsprobleme nicht nur lückenhaft, sondern darüber hinaus sowohl systematisch als auch willkürlich verzerrt.

 

 

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