Eine hohe Mobilität wird heute in unterschiedlichsten Kontexten als zentrales Kennzeichen moderner Gesellschaften interpretiert. Nicht selten wird in diesem Zusammenhang pauschal darauf hingewiesen, dass Personen, Kapital, Güter und Ideen immer schneller, weiter, häufiger, billiger und sicherer unterwegs sind. Ein Blick auf die Strassen und Schienen des Landes scheint zu bestätigen,wasoffizielleStatistikenseitJahrzehnten mit eindrücklichen Zahlen belegen: Der Verkehr hat im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts massiv zugenommen. Doch ist dieses Wachstum eins zu eins mit einer gesteigerten Mobilität gleichzusetzen? Sind wir, wie gerne argumentiert wird, tatsächlich in jeglicher Hinsicht mobiler als früher? Ausgehend von diesen Leitfragen richtet die Dissertation einen vertieften Blick auf die Verkehrs- und Mobilitätsgeschichte der letzten 100 Jahre.
Dabei zeigt sich, dass die Entwicklung des Verkehrssystems nicht erst mit dem Durchbruch der Massenmotorisierung einer starken Dynamik unterlag. Der Ausbau und die technische Weiterentwicklung der Eisenbahn führten bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einer Revolution der Erreichbarkeit und stellten bisher geltende Raumstrukturen auf den Kopf. Das gleiche galt für die städtischen Nahverkehrssysteme und das Fahrrad, die eine wachsende Ausdehnung städtischer Siedlungen erlaubten und damit die Verkehrsbeziehungen in den Städten selbst sowie im urbanen Umland spürbar veränderten. Dieser Effekt wurde mit dem Durchbruch der Massenmotorisierung nach 1950 stark akzentuiert. Der PKW führte zu einer in diesem Ausmass bisher unbekannten räumlichen Verzettelung von Aktivitäten wie Arbeiten, Wohnen, Einkaufen und Freizeit. Ausserdem erleichterte er die geografische Ausdehnung von Beziehungsnetzen, veränderte Zeiterfahrungen respektive -strukturen und wurde für viele Menschen zu einem zentralen Instrument für die Organisation alltäglicher Aufgaben.
Die Verlagerung auf moderne und schnelle Verkehrsmittel, das Anschwellen der Verkehrsströme bei einer gleichzeitig wachsenden Dominanz des Automobilismus sind damit ohne Zweifel charakteristische Merkmale der Verkehrsgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Gerne vergessen wird allerdings, dass sich Mobilität trotz des massiven Verkehrswachstums, der stark verbesserten Erreichbarkeit und den gestiegenen Distanzen im Alltagsverkehr bis heute zu einem erheblichen Mass im Nahbereich abspielt und ein beträchtlicher Teil der dabei zurückgelegten Wege zu Fuss oder mit dem Fahrrad erfolgt. Der Langsamverkehr mag seit Beginn des 20. Jahrhunderts tendenziell Verkehrsanteile verloren haben, seine Bedeutung bleibt jedoch bis heute hoch. Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass sich die Bevölkerung im Alltag nicht grundsätzlich häufiger bewegt als früher. Die Zahl der Wege, die im Schnitt pro Tag und Person zurückgelegt werden, ist seit Jahrzehnten konstant. Verschiedene Verkehrswissenschaftler weisen diese Beständigkeit auch für den täglichen Zeitaufwand für Mobilität nach. Die These der stetig mobiler werdenden Gesellschaft wird damit zwar nicht komplett in Frage gestellt, allerdings drängt sich eine nuancenreichere Betrachtungsweise auf. Verkehr ist und war nie ein homogenes Phänomen, sondern wird von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst. DerErschliessungsgradmitVerkehrsinfrastruktur schuf etwa unterschiedliche Bedingungen für den Einsatz von Verkehrsmitteln (z. B. Stadt-Land- Gegensätze). Gleichzeitig wirkten sich sozioökonomische und soziokulturelle Gegebenheiten auf den Zugang der Akteure zum Verkehrssystem aus (z.B. traditionelle Geschlechterrollen). Die gerne postulierte Zunahme der Mobilität war deshalb stets auch von erheblichen Ungleichheiten begleitet. Insbesondere die Verkehrsrealität von Fussgängern und Fahrradfahrern beziehungsweise von Frauen, Kindern, Behinderten und älteren Menschen fand im Denken und Handeln der meist männlichen Experten lange Zeit keinen Platz. Ihre spezifischen Erfahrungen und Bedürfnisse wurden deshalb jahrzehntelang weitgehend übersehen.
Inhaltlich gliedert sich die Dissertation, die im Rahmen des SNF-Projekts „Mobilität im schweizerischen Bundesstaat. Ein neuer Blick auf die Verkehrsgeschichte der Schweiz nach 1848“ entstanden ist, in drei Hauptkapitel. Im ersten Teil steht die Frage im Zentrum, wie sich die verschiedenen Teilbereiche des Verkehrssystems –motorisierter Individualverkehr ,ÖV und Langsamverkehr – im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft seit 1918 angebotsund nachfrageseitig entwickelten. Danach wird die Perspektive stärker auf Fragen der Alltagsmobilität verlagert: Wie lassen sich die alltäglichen Mobilitätsbedürfnisse der Bevölkerung im Zeitverlauf beschreiben? Welche Konstanten und Veränderungen kennzeichneten die Entwicklung? Wie verteilten sich Mobilitätschancen in der Gesellschaft? Der dritte und letzte Teil der Dissertation widmet sich anschliessend der noch relativ jungen Mobilitätsbiografieforschung. Dieser Perspektivenwechsel soll dazu beitragen, eine Schwachstelle der beiden ersten Hauptkapitel auszugleichen. Mit ihrem Blick auf die longue durée der Verkehrs- und Mobilitätsentwicklung konzentrieren sich diese zwangsläufig auf zentrale Entwicklungslinien, Zäsuren und Trends. Dieses Vorgehen läuft Gefahr, die Vielschichtigkeit alltäglicher Mobilität – insbesondere auf individualbiografischer Ebene – zu vernachlässigen. Im dritten Kapitel wird der Blick deshalb bewusst stärker auf diese qualitativen Aspekte gelegt.
Der Dissertation liegt ein breitgefächertes Quellenkorpus zugrunde. Aufgrund der guten Überlieferungssituation, dem vergleichsweise leichten Zugang sowie der Möglichkeit zur seriellen Auswertung sind quantitative Quellen eine wesentliche Grundlage der Arbeit. Das entsprechende Quellenmaterial reicht von statistischen Erhebungen zur Verkehrsinfrastruktur, Fahrzeugbeständen, Verkehrsausgaben, Passagierzahlen und Personenkilometern über Verkehrszählungen und Unfallstatistiken bis hin zu quantitativen Befragungen zum Verkehrs- und Mobilitätsverhalten. Ergänzt wird dieses statistische Material durch eine Auswertung zeitgenössischer Studien von Verkehrswissenschaftlern, Planern und Behörden. Um der sozial- und kulturgeschichtlichen Bedingtheit von Verkehr und Mobilität auf die Spur zu kommen, setzt die Dissertation auf Zeitungen, Zeitschriften und Bildquellen. Ausserdem werden mittels Oral History-Interviews zwölf individuelle Mobilitätsbiografien von Angehörigen dreier Generationen erarbeitet und miteinan- der verglichen.