Um die Jahrhundertwende wurde in den westlichen Gesellschaften ein intensiver Diskurs um die gegenwärtige und zukünftige Form der Geschlechterbeziehung geführt, der sich in der Schweiz auch im ZGB-Eherecht von 1907/12 niederschlug. Immer nahmen die jeweiligen Positionen Bezug auf eine soziale Ordnung der Geschlechter und weiterführend auf die Ordnung der Gesellschaft überhaupt. Die Ehe war der Ort, wo die Geschlechter in ein Verhältnis zueinander gesetzt wurden, das entsprechend der den Frauen und Männern zugedachten Positionen in Kultur und Gesellschaft ausfiel.
Wenn die Ehe der Raum war, wo sich die soziokulturelle Geschlechterordnung im individuellen Verhältnis vollzog, so heisst das zugleich, dass sich dort auch der Streit um diese Ordnung konkretisierte - um so mehr, als anzunehmen ist, dass in individuellen Geschlechterbeziehungen Widersprüche manifest werden mussten, die auf ideologischer Ebene eingeebnet waren. Es sind diese konflikthaften Auseinandersetzungen in der konkreten Ehebeziehung und die sie orientierenden Sinngefüge und kulturellen Deutungen, die in der Lizentiatsarbeit interessieren, und die anhand von Scheidungsprzessen am stadtbernischen Bezirksgericht aus den 191 0er Jahren untersucht werden. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wird derjenige historische Zeitpunkt untersucht, in welchem nicht nur der bereits angesprochene Ehediskurs geführt wurde und ein neues Ehe- und Scheidungsrecht in Kraft trat, so dern in dem familienhistorisch auch die Verallgemeinerung des bürgerlichen Ehe- und Familienmodel les angesiedelt wird. Entsprechend sind es die Kategorien Geschlecht und Klasse, an welchen Frag stellung und Vergehen orientiert werden.
Im Zentrum der Arbeit stehen drei Fallstudien. Die Interpretation von Einzelfällen setzt die Rekonstruktion der Äusserungsbedingungen voraus: Zum einen ist dies der formale, verfahrensrechtliche Verlaufeiner Scheidung in der Stadt Bern nach 1912, der anhand der relevanten Gesetzesartikel (ZGB 1907/12, kantonale Zivilprozessordnung) und eines juristischen Kommentars rekonstruiert wird. Zum andern gehören zu den Äusserungsbedingungen die im Verlauf des ZGB-Gesetzgebungsprozesses rechtlich kodifizierten Deutungen von Ehe und Scheidung. Anhand von Kommissions- und Parlamentsdebatten wird diese Kodifizierung als Aushandlung einer politisch konsensfähigen Gestalt der Ehe und der Möglichkeiten ihrer Auflösung analysiert. Durchgesetzt hat sich dabei ein Ehe- und Seheidungsrecht, das die Institution Ehe gegen soziale und kulturelle Veränderungen im Geschlechterverhältnis ebenso verteidigte, wie gegen Anliegen der Frauenbewegung und gegen Kritik am institutionellen Charakter der Ehe: Die Ehe wurde als ein solides sekundärpatriarchales Verhältnis festgeschrieben und die Scheidung gegenüber dem teilvereinheitlichten, relativ liberalen eidgenössischen Scheidungsrecht von 1874f75 erschwert. Damit behielt die soziokulturell durchaus umstrittene liberal-bürgerliche Polarisierung der Geschlechter politisch-institutionell die Oberhand.
Für die Fallstudien wurden mittels eines ,theoretical sampling' entlang geschlechts- und klassenspezifischer Merkmale (Ergebnisse der statistischen Analyse von 289 der insgesamt 465 vorhandenen Scheidungsdossiers) drei Einzelfälle aus dem proletarisch bis kleinbürgerlichen, aus dem sozialdemkratisch-intellektuellen und aus dem bürgerlichen Milieu ausgewählt. Die Interpretation der Einzelfälle orientiert sich theoretisch an historisch-kulturwissenschaftlichen Ansätzen. Da den Richtern verfahrensrechtlich bewiesen werden muss, dass die jeweilige Ehe 'unzumutbar' geworden ist, müssen die Eheleute und allenfalls die Zeuginnen vor Gericht detailliert darlegen, was man in einem ehelichen Zusammenleben nicht hinzunehmen braucht. Diese „ausdrucksstarken Gemälde des Ehelebens" (Arlette Farge/Michel Foucault) werden nicht als Abbilder sozialer Wirklichkeit verstanden, sondern als Repräsentationen von Ereignissen, Handlungen und Beziehungen, in welche jene kulturellen Sinndeutungen eingehen, an denen sich die Akteure in der sozialen Praxis orientieren. Die geschlechter-, milieu-, und klassenspezifischen Charakteristika dieser Deutungen werden rekonstruktiv hermeneutisch und unter Beizug von weiteren Fällen in der vergleichenden Analyse herausgeschält.
Die erste Fallstudie über ein Ehepaar aus dem Arbeitermilieu bietet Gelegenheit, die sich in häuslicher Gewalt äussernde konflikthafte Konstellation von materiell notwendiger weiblicher Erwerbstätigkeit einerseits und dem bürgerlichen Modell der Alleinernährerfamilie andererseits zu studieren. Der zweite Fall behandelt mit dem sozialdemokratischen Ehepaar Robert und Rosa Grimm ein Paar, das sich aufgrund seines politischen Bewusstseins kritisch mit den bürgerlichen Normen des Geschlechterverhältnisses auseinandersetzte, und dessen egalitärer Beziehungsentwurf schliesslich an der Unvereinbarkeit der 'modernen' männlichen Geschlechtsidentität mit einer egalitären und individualisierten Libesbeziehung scheiterte. Die dritte Fallstudie widmet sich der Ehe eines Arztes und analysiert für diebürgerliche Ehe typisch zu nennende Widersprüche: Die liberal-bürgerliche Geschlechterpolarisierung, die Mann und Frau komplementär zusammenfügen soll, führt stattdessen in der gelebten bürgerlichen Ehe zu Entfremdung, und die Ansprüche, die die Frau aus der Ehe als Gefühlsgemeinschaft ableiten kann, untergraben die vorausgesetzte Autorität des Ehemannes.
In allen drei Fällen machen die Männer Ordnungsvorstellungen entlang dem sekundärpatriarchalen Ehemodell geltend, während die Frauen persönliche Geltungs- und Gestaltungschancen einklagen, die diese Ordnung entgrenzen und weitergehend Wandlungen des Geschlechterverhältnisses antreiben. Der Spielraum für diese konflikthaften Aushandlungen entsteht aus den ideologisch, nicht aber praktisch verflachbaren Widersprüchen zwischen der liberal-bürgerlichen Geschlechterordnung auf der einen Seite und der notwendigen Anpassung an materielle Erfordernisse oder Ansprüchen an die individuelle Geschlechterbeziehung auf der anderen Seite.
Ambivalent ist die Rolle der Scheidungsrichter: In den Urteilserwägungen argumentieren sie entlang des im Gesetzgebungsprozess durchgesetzten Deutungsmusters, indem sie den Männern ein Mehr an Macht und lndividualisierungschancen zuweisen, während sie die Frauen die Kosten dieser Ordnung tragen lassen. Die Urteilspraxis hingegen steht im Widerspruch zu den Intentionen des Gesetzgebers: In nahezu allen Scheidungsprozessen anerkennen die stadtbernischen Richter - typisch für den städtisch-protestantischen Raum - den von den (mehrheitlich weiblichen} Klagenden geltend gemachten Leidensdruck und ordnen ihn dem gesellschaftspolitischen Interesse an der Aufrechterhaltung möglichst vieler Ehen über, indem sie die Scheidung aussprechen. Damit bestätigen sie die Konfliktträchtigkeit der Geschlechterordnung der Modeme, wie sie in den einzelnen Ehen zum Ausdruck kommt.