Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Rohr
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2021/2022
Abstract
Die Bedrohung durch Lawinenabgänge hat die Besiedlung von Gebirgsräumen seit jeher beeinflusst. Über Jahrhunderte hinweg waren die Alpenbewohner:innen nicht in der Lage, dieser Elementargewalt wirksame Schutzmassnahmen entgegen zu setzen. Trotz der dünnen Besiedlung des Alpenraums kam es im Laufe der Geschichte deshalb immer wieder zu schweren Lawinenkatastrophen mit zahlreichen Todesopfern. Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts verschärften und veränderten sich die Vulnerabilität und das Naturrisiko im Alpenraum zusätzlich. Dies ist einerseits auf die rasante Zunahme der Bevölkerungszahl im Alpenraum zurückzuführen, andererseits auf das stark angestiegene Mobilitätsbedürfnis in den Alpen. Ferner stellt der Tourismus seitdem in vielen Regionen der Alpen den einzigen rentablen Wirtschaftszweig dar und führte zu einer intensiven Erschliessung bis in die hochalpinen Gebiete. Der zunehmende Trend zu Outdoor-Freizeitaktivitäten wie Bergsport und Wintersport brachte deshalb eine starke Ausdehnung der frequentierten Gebiete bis in die lawinengefährdeten Hochlagen der Alpentäler mit sich.
Insbesondere im Verlauf der vergangenen zwei Jahrhunderte fanden im Bereich des Lawinenschutzes im Berner Oberland und in der gesamten Schweiz grundlegende Veränderungen statt. In der Maserarbeit wurde deshalb in erster Linie versucht, die Lawinenaktivität dieses Zeitraumes im Berner Oberland anhand des Lawinenkatasters des Kantons so gut wie möglich zu rekonstruieren. Zu diesem Zweck kam eine Kombination aus quantitativen und qualitativen Methoden zur Anwendung. Mit dem Rückgriff auf einschlägige Fachliteratur zum Thema wurden überdies die Berner Oberländer Lawinenschutzbemühungen der vergangenen zwei Jahrhunderte nachgezeichnet.
Die Längsschnittuntersuchung zu den Lawinenschäden im Berner Oberland förderte wertvolle Erkenntnisse zu Tage. Grundsätzlich kann die Schadenlawinenaktivität im Berner Oberland in drei Phasen unterteilt werden: Während einer ersten Phase bis ungefähr zur Mitte des 19. Jahrhunderts versuchten die Bewohner:innen der Alpentäler den Lawinen so gut wie möglich auszuweichen. Trotzdem führten unerwartete Lawinenstürze und Extremereignisse häufig zu zahlreichen Todesopfern in den Bergdörfern. Während einer zweiten Phase führten Bevölkerungswachstum, Verkehrserschliessung und Tourismusentwicklung während des Zeitraumes zwischen 1850 und 1950 dazu, dass das Schadenpotenzial im Berner Oberland deutlich grösser wurde: Lawinen waren vermehrt für Schäden an Gebäuden, Verkehrswegen und sonstiger gefährdeter Infrastruktur verantwortlich. Zusätzlich verlagerten sich auch die Orte, an denen die Opfer von der Lawine erfasst wurden, zunehmend aus den Wohngebieten heraus auf Verkehrswege und in die Bereiche beruflicher und militärischer Tätigkeiten. Schliesslich hatten die Weiterentwicklung des Lawinenschutzes und die Renaissance der Berner Oberländer Tourismusindustrie in der Nachkriegszeit insbesondere ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eine erneute Verlagerung der Schadenlawinenaktivität zur Folge: Die Popularisierung des Wintersports führte dazu, dass sich die Orte der Schadenlawinen mit Personenschäden zunehmend ins offene Gelände verschoben. Seit den 1960er Jahren sind fast alle Lawinentoten im Berner Oberland im touristischen Bereich anzusiedeln.
Die Weiterentwicklung des Lawinenschutzes und die damit verbundene Schaffung einer „synthetischen zweiten Natur“ steht ihrerseits in einem direkten Zusammenhang mit der menschlichen Betroffenheit durch extreme Lawinenabgänge. Mehrere Lawinenwinter waren wesentliche Auslöser für die Entwicklung und Umsetzung des Systems des integralen Lawinenschutzes. In der Studie wurden die Lawinenschutzbemühungen im Berner Oberland anhand mehrerer Perioden erhöhter Lawinenaktivität untersucht, um diesen Einfluss aufzuzeigen. Insbesondere im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts resultierte eine Reihe von tiefgreifenden Innovationen im Bereich des technischen Lawinenschutzes aus vorangegangenen Extremereignissen. Darüber hinaus wurden ausserdem auch die administrativen und rechtlichen Grundlagen geschaffen, um das System des integralen Lawinenschutzes im Berner Oberland und in der gesamten Schweiz flächendeckend umzusetzen. Heute kommt eine Kombination aus kurz- und langfristigen, aktiven und passiven Massnahmen zum Schutz der zahlreichen potenziell gefährdeten Örtlichkeiten zum Einsatz.