Zentral für das Funktionieren des Austausches und die Generierung von Wissen in der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik war der Brief. Mit ihren Briefen hielten sich die Gelehrten gegenseitig über ihre neuesten Entdeckungen und Experimente auf dem Laufenden, tauschten Informationen und Realien aus, koordinierten Druckvorgänge, etc. Der Bedeutung der Briefe für das Funktionieren der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik Rechnung tragend, standen bislang in erster Linie die gelehrten Inhalte in den Korrespondenzen im Fokus der historischen Forschung. Diese (mono-) thematische Herangehensweise wird den Briefen jedoch nicht gerecht. Schliesslich tauschten sich die Gelehrten über weit mehr als nur über „Gelehrten-Kram“ aus. Die Themenfelder reichen von familiären Angelegenheiten über wirtschaftliche Sorgen bis hin zur Politik.
Genau bei diesen „nicht-gelehrten Themenfeldern“ setzt die eingereichte Masterarbeit an. Anhand dreier ausgewählter Korrespondenzen des Zürcher Arztes und Naturforschers Johann Jakob Scheuchzer soll untersucht werden, inwiefern damals aktuelle politische Ereignisse Eingang in die überwiegend gelehrte Korrespondenz fanden und welche Rolle darin das Politische spielte.
Scheuchzers Briefkorpus zeichnet sich durch seinen starken regionalen Fokus auf die (insbesondere alpinen) Gebiete des Corpus Helveticum aus. Anhand der Korrespondenzen Scheuchzers mit dem Bündner Pfarrer Johannes Christian Leonhardi (1655–1725), dem Glarner Pfarrer Johann Heinrich Tschudi (1670–1729) und dem Appenzeller Arzt Laurenz Zellweger (1692–1764) untersucht die Masterarbeit, inwiefern Informationen zu damals aktuellen politischen Ereignissen zwischen dem Austausch über Gämshörnern, Barometern, Fossilien etc. Platz fanden und wie das Politische verund behandelt wurde.
Um die vier Korrespondenten aus dem gelehrten Kontext zu lösen, galt es, sie zunächst soziopolitisch in ihren jeweiligen Gemeinwesen zu verorten. Aufgrund ihres hohen Bildungsgrades, ihres politisch-rechtlichen Status als Bürger bzw. Landmänner eines souveränen Gemeinwesens und ihrer angesehenen Position wurde der soziologische Begriff der Intelligenz als Arbeitsbegriff zur Beschreibung der vier Korrespondenten eingeführt.
Die Ergebnisse der Analyse der Briefstellen, in denen sich die Korrespondenten über damals aktuelle politische Ereignisse austauschten, lassen sich in drei Punkten zusammenfassen:
Erstens lässt sich in allen drei Korrespondenzen ein Austausch von Informationen zu damals aktuellen politischen Ereignissen feststellen, wobei die Briefschreiber sich über regionale Ereignisse – also solche, welche sich in der jeweiligen Region der Korrespondenten ereigneten – sowie über jene, die im eidgenössisch-bündnerischen Raum stattfanden, besonders rege austauschten. Speziell hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass sich zwischen den „eidgenössischen“ Korrespondenten eine „eidgenössische“ Wissensbasis, betreffend der geheimen Verhandlungen, z.B. an der Tagsatzung, feststellen lässt – eine Wissensbasis, um welche sich Leonhardi als „nicht-eidgenössischer“ Bündner bei Scheuchzer erst noch bemühen musste.
Zweitens nutzten die vier Korrespondenten ihre Briefe bei Weitem nicht nur zum neutral-sachlichen Informationsaustausch, sondern verbreiteten spezifische Meinungen und kommentierten das Geschehen. Leonhardi, Tschudi und Zellweger mischten ihren Darstellungen der Ereignisse sowohl implizit als auch explizit ihre Meinung bei und beeinflussten so die Wahrnehmung der Ereignisse in Zürich.
Drittens liess sich insbesondere an der Leonhardi-Scheuchzer-Korrespondenz aufzeigen, dass sich die Korrespondenz auch in den Dienst des Gemeinwesens stellen liess. So diente die Leonhardi-Scheuchzer-Korrespondenz der Zürcher Obrigkeit wiederholt als inoffizieller und informeller Kanal, um u. a. während innerbündnerischer Streitigkeiten vermittelnd einzugreifen.
Die Auseinandersetzung mit den politischen Inhalten in den Korrespondenzen zeigt, dass die Angehörigen einer ostschweizerischen, reformierten Intelligenz bestens über das damals aktuelle politische Geschehen informiert waren. Darüber hinaus liess sie das politische Geschehen – besonders in ihrer eigenen Region – keineswegs kalt und sie nutzen die Gelegenheit, welche ihnen ihre Korrespondenz bot, um in ihrem Sinne entweder auf die Wahrnehmung der Ereignisse oder gar auf deren weiteren Verlauf Einfluss zunehmen. Mitd em Begriff der politisierten Intelligenz wird eine Analysekategorie vorgeschlagen, welche den Eigenschaften der vier Korrespondenten Rechnung trägt und mit der sich weitere „gelehrte Korrespondenzen“ auf ihre politischen Inhalte hin untersuchen lassen. Quellenmaterial ist dank der verschiedenen digitalen Editionsprojekte zuhauf vorhanden und leicht zugänglich.