Zitierweise:
Nicklaus, Yella: Panelbericht: Grenzen des Wachstums «nach dem Boom»: Wirtschaftswachstum, Wachstumskritik und (Post-) Wachstumsgesellschaft seit den 1970er Jahren, infoclio.ch Tagungsberichte, 09.08.2022. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0281>, Stand: 03.12.2024
Verantwortung: Roman Rossfeld / Matthias Schmelzer
Referierende: Elke Seefried / Maurice Cottier / Pascal Germann
Kommentar: Matthias Schmelzer
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Wachstum, so ROMAN ROSSFELD (Bern) in seiner Einleitung zum Panel, sei mit dem Ökonomen Birger Priddat als «säkulares Erlösungsnarrativ des Kapitalismus» fassbar. In den 1970er Jahren sei dieses Narrativ in westlichen Gesellschaften erstmals ins Wanken geraten und Gegenstand teils scharf geführter Auseinandersetzungen geworden. Ebenjene Debatten seien aber ein Forschungsdesiderat, betrachte man die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit dem «Epochenbruch» der 1970er Jahre und der Zeit danach. Das Panel nehme sich diesem Desiderat an und thematisiere gesellschaftliche Vorstellungen und Konzepte von Wachstum in der Zeit «nach dem Boom».
In ihrem (online zugeschalteten) Referat betrachtete ELKE SEEFRIED (Aachen) den titelgebenden Bericht Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome. Der informelle Expertenzirkel veröffentlichte 1972 diese vielbeachtete Schrift, die argumentierte, die wirtschaftliche Wachstumsgrenze des Planeten sei bis ins Jahr 2000 erreicht. Seefried ging in ihrem Referat zunächst auf die Hintergründe der Organisation ein, kontextualisierte die dem Bericht zugrunde liegenden Vorstellungen vor ihrem gesellschaftlichen Hintergrund und widmete sich dann schwerpunktmässig der Rezeptions- und Nachgeschichte der Veröffentlichung. Der Bericht forderte eine ganzheitliche globale Planung, um das Wirtschaftswachstum zu begrenzen, was die Referentin mit dem technokratischen Weltbild der Club-Mitglieder und dem an Popularität gewinnenden Feld der Zukunftsforschung in Verbindung brachte. Dieses habe grosses Vertrauen in neue Modelle und Techniken gesetzt, auf denen solcherlei Planungsvorhaben aufbauten. Auch in der Gesamtgesellschaft habe weitverbreitetes Vertrauen in computerunterstützte Modellierungen und ein Wunsch nach Zukunftsplanung bestanden – zwei Umstände, die Seefried als Hauptgründe für die grosse Resonanz, auf die der Bericht traf, identifizierte. Auch die Ölkrise von 1973 begünstigte laut Seefried die Durchschlagkraft der Publikation, ebenso wie die dem Bericht zu eigene Kommunikation der Dringlichkeit, die sofortigen Handlungsbedarf implizierte. Der Bericht stiess aber auch auf Kritik, insbesondere von linken Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Intellektuellen: Zum einen wurden die Modellgrundlagen des Club of Rome infrage gestellt, zum anderen die Institution selbst als elitär kritisiert. Angriffspunkt sei insbesondere eine mangelnde Reflexion globaler Ungleichheiten aufseiten der Autorinnen und Autoren gewesen, was Seefried in den Kontext des zeitgenössisch debattierten Nord-Süd-Konflikts stellte. Die Referentin bilanzierte, der Bericht habe die internationale Umwelt- und Entwicklungspolitik nachhaltig beeinflusst; auch Teile der Linken hätten sich der Wachstumskritik angeschlossen. Insgesamt habe der Bericht einen neuen, offeneren und qualitativen Wachstumsbegriff etabliert und einen globalen Diskurs über nachhaltige Entwicklung angestossen.
Im zweiten Referat widmete sich MAURICE COTTIER (Freiburg) den Wachstumsdiskursen der liberalen US-amerikanischen Zeitschrift The New Republic. Er begründete seinen Fokus mit einem Forschungsdesiderat: Zwar seien die Anfänge und die Blütephase des Wachstumsparadigmas gut erforscht, das Wiedererstarken wachstumsaffirmativer Diskurse in den 1980er Jahren nach der Phase der Wachstumskritik stelle aber eine Lücke dar. Cottier skizzierte die höchst variable Entwicklung der Haltung der Zeitschrift zu Wachstum seit den 1940er Jahren in vier Phasen: Zunächst habe The New Republic eine mustergültig positive Haltung zu Wachstum vertreten, bevor in den späten 1950er Jahren Wachstum erstmals infrage gestellt wurde. Dennoch habe weiterhin eine «Hegemonie des Wachstumsdenkens» bestanden, die erst in den 1970er Jahren durch die Krise des Wachstumsparadigmas gebrochen wurde. In den von Cottier fokussierten 1980er Jahren sei es dann zu einem Rechtsrutsch der Zeitschrift gekommen, der sich unter anderem in einer Öffnung gegenüber neoliberalen und neokonservativen Kreisen zeigte. Cottier beleuchtete insbesondere die Rolle der Kategorie race: Während die Zeitschrift staatliche Intervention in den 1980er Jahren nahezu kategorisch ablehnte, wurde der Schwarzen Bevölkerung eine Neigung zu stateism attestiert. Neoliberale Diskurse über die Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik waren also auch verwoben mit Auseinandersetzungen um US-amerikanische race relations.
Im dritten Referat beleuchtete PASCAL GERMANN (Bern) die Karriere des Schlagworts ‹Lebensqualität› als gesellschaftliches Leitkonzept. Seit Mitte der 2000er Jahre sei Lebensqualität als messbares Ziel mit festgelegten Indikatoren gesellschaftlich institutionalisiert – diese Etablierung habe aber eine längere Geschichte, deren Ursprung Germann in den 1960er Jahren verortete. Geprägt wurde der Begriff vom Ökonomen John K. Galbraith, der Lebensqualität als neues Fortschrittskriterium in Abgrenzung zu ökonomischem Wachstum vorstellte. Seine Konzeptionierung löste einen Forschungsboom aus; neue Sozialindikatoren wurden ausgearbeitet, in den 1970er Jahren wurden erste öffentliche Lebensqualitätsprogramme entwickelt. Germann zeichnete nach, wie ebenjene Programme im Rahmen der neoliberalen Wende der 1980er Jahre in die Krise gerieten und in den 1990er Jahren mit dem Erstarken der empirischen Glücksforschung einen neuen Aufschwung erfuhren. Der Referent resümierte, das Lebensqualitätskonzept sei für divergierende politische Projekte eingesetzt worden. Grundsätzlich handele es sich aber um eine im Kern linksliberale Idee, die bemerkenswerten Erfolg hatte – ein Umstand, dem laut Germann in der historischen Neoliberalismusforschung zu wenig Beachtung geschenkt werde. Hier sei also «nach dem Boom» kein Bruch festzustellen, vielmehr handele es sich um ein Konzept aus der Nachkriegszeit, das nach den 1970er Jahren sogar an Bedeutung gewann.
MATTHIAS SCHMELZER (Jena) betonte in seinem Kommentar zum Panel, Wachstumskritik biete eine interessante Möglichkeit, die Boomphase der Nachkriegszeit und die Zeit «nach dem Boom» voneinander zu differenzieren. Schmelzer warf eine Reihe von Fragen auf, die dabei helfen sollten, diese Differenzierung analytisch zu schärfen: Fraglich sei, ob die Wachstumskritik der 1970er Jahre eine Reaktion auf die zeitgenössische Wachstumskrise darstelle, oder ob das vorige Wachstum selbst Voraussetzung für die aufkommende Kritik sei. Er fragte also nach der Perspektivierung der Wachstumskritik – war diese aus einer Lage, in der Wachstum selbstverständlich erschien, geäussert worden, oder war die Kritik eine Reaktion auf die Erkenntnis, das wirtschaftliches Wachstum an seine Grenzen geraten war? In seiner Würdigung des Panels machte Schmelzer zudem darauf aufmerksam, dass die Forschung zur Wachstumskritik zum einen sehr westlich fokussiert sei und geografisch erweitert werden müsse, zum andern Wachstumskritik abseits des Club of Rome, beispielsweise aus feministischer Perspektive, weiterhin ein Forschungsdesiderat darstelle. Zum Abschluss seines Kommentars machte Schmelzer im Hinblick auf den aktuellen Klimadiskurs darauf aufmerksam, dass auch Historikerinnen und Historiker Teil historischer Debatten seien, und plädierte für eine klare Positionierung der Forschenden zur Frage, ob der Club of Rome mit seinem Postulat der Grenzen des Wachstums Recht behalten habe.
Panelübersicht:
Elke Seefried: Die Debatte über «Grenzen des Wachstums»: Eine Bilanz nach 50 Jahren
Marice Cottier: Nationale Konkurrenz im globalen Wettbewerb. Der Wachstumsdiskurs in The New Republic in den 1980er Jahren
Pascal Germann: Lebensqualität statt Wachstum? Zum Aufstieg eines neuen Leitkonzepts seit den 1960er Jahren
Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 6. Schweizerischen Geschichts
tagen.
Veranstaltung
6. Schweizerische Geschichtstage
Organisiert von
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Université de Genève
Veranstaltungsdatum
Ort
Genf
Sprache
Deutsch
Art des Berichts
Conference