Panel: Lebensreform und alternative Lebensstile im 20. Jahrhundert: Gegenmächte im Alltagsleben

Autor / Autorin des Berichts
Anina Eigenmann
Universität Bern

Verantwortung: Stefan Rindlisbacher
Referierende: Stefan Rindlisbacher / Eva Locher / Philipp Karschuck

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Die drei Referierenden des Panels beschäftigten sich mit verschiedenen Reformbewegungen, die alle bedeutende Zentren in der Schweiz hatten. Alternative Bewegungen des 20. Jahrhunderts lassen sich in drei Gruppen einteilen: Lebensreform mit Naturheilkunde, Vegetarismus und Freikörperkultur; erweiterte Lebensreform mit Siedlungs- und Gartenstadtbewegung, biologischer Landwirtschaft und Freihandel; neue religiöse Bewegungen der Anthroposophie, Theosophie und Spiritismus. Gemeinsam ist all diesen Bewegungen, dass sie nicht-hegemoniales Wissen und alternative Praktiken in verschiedenen Lebensbereichen hervorbrachten. Zudem waren sie stark auf eine Selbstreform ausgerichtet, beabsichtigten sekundär aber auch eine Gesellschaftsreform.

Als erster Referent führte STEFAN RINDLISBACHER in die Geschichte der Freikörperkultur (FKK) von deren Entstehung um 1900 bis 1930 ein. Die Grundidee – die positive Wirkung des Nacktseins – stammt aus der bereits früher aufgekommenen Naturheilkunde. Sie setzte im Gegensatz zur Medizin nicht auf substanzen-basierte Heilmittel, sondern auf Behandlung der Kranken mit Licht, Luft und Wasser. Diese Elemente könnten nur am nackten Körper wirken, so die Vorstellung. Nacktheit war deshalb ein zentraler Bestandteil der Naturheilkunde, wurde aber nur stark reglementiert, geschlechtergetrennt und hinter Mauern (z.B. in Luft- und Lichtbädern) praktiziert. Die FKK-Bewegung ging noch einen Schritt weiter und setzte sich zum Ziel, das gemeinsame Nacktsein in den Alltag gesunder Menschen zu integrieren. Zentral war dabei die Entkoppelung von Nacktheit und Sexualität. Zudem wurden Konzepte anderer Lebensreform-Bewegungen im Bereich der Ernährung, Gymnastik oder Kindererziehung, etwa Vegetarismus und Alkohol-Abstinenz, aufgegriffen.
Vor dem Ersten Weltkrieg war die FKK ein Randphänomen, wurde aber in grösseren deutschen Städten wie Berlin und Hamburg bereits mit ersten Vereinsgründungen institutionalisiert. In der Schweiz wurde FKK im Tessin auf dem Monte Verità gelebt. In der Zwischenkriegszeit erfuhr die FKK sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz einen Starken Aufschwung: in Deutschland dank der Jugendbewegung, die etwa FKK-Lager anbot, in der Schweiz dagegen vor allem dank der Naturheilkunde. Zentral war hier Werner Zimmermann (1893-1982). Er trug mit zahlreichen Publikationen sowie der Gründung von Zeitschriften, die teilweise bis heute erscheinen, massgeblich zur Verbreitung der FKK bei. Ab 1927 propagierte der „Schweizerische Lichtbund“ das Nacktbaden und bot seinen Anhängern juristischen Schutz. In den späten 1920er und frühen 1930er Jahren waren nämlich mehrere Prozesse gegen die FKK-Bewegung geführt worden. Anhand eines Berner Gerichtentscheides zeigte Rindlisbacher auf, dass Nacktheit in dieser Zeit aber nicht mehr durchgehend als unsittlich betrachtet wurde. Das war nicht nur ein Verdienst der FKK, sondern auch die Folge der zunehmenden Popularität von Sportarten, die eine reduzierte Kleidung voraussetzten. Als weiterer Hinweis für die zunehmend weniger restriktiven Kleiderregeln nannte Rindlisbacher verschiedene Hygiene- und Sportausstellungen. Nacktheit fand überdies immer mehr Eingang in die Werbung.

EVA LOCHER schloss hier direkt an und erzählte die Geschichte der FKK in den 1960er und 1970er Jahren weiter. Zunächst verwies sie auf starke Kontinuitäten: So erscheinen einige FKK-Zeitschriften noch heute und viele Aktivistinnen und Aktivisten der ersten Stunde zogen sich erst in den 1970er Jahren aus Altersgründen zurück. Gleichzeitig fanden in der Hauptströmung der FKK nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutende Veränderungen statt: Ab 1945 organisierten sich in Deutschland die regionalen FKK-Vereine in einem Dachverband neu. In den darauffolgenden Jahrzehnten erfuhren sie ein starkes Mitgliederwachstum, da Nacktheit zunehmend weniger Anstoss erregte. Im Zuge dieser Verbreiterung der FKK rückten die meisten anderen lebensreformerischen Elemente in den Hintergrund. FKK war nun zu einer Form von Freizeitvergnügen geworden. Locher bezeichnete dies als „Entideologisierung“ der FKK.
Eine kleine Gruppe innerhalb der FKK, der sogenannte „Kissinger Kries“ opponierte gegen diese Entideologisierung und kämpfte dafür, lebensreformerische Ideen in der FKK präsent zu halten. Nach einigen Jahren verlegte die Oppositionsgruppe 1937 ihr Zentrum von Kissingen nach Thielle am Neuenburgersee, da die FKK in der Schweiz im Gegensatz zu Deutschland kaum entideologisiert worden war. Zudem waren hier mit Werner Zimmermann und Eduard Frankhauser zwei altgediente Aktivisten am Werk. Mit regelmässigen Treffen im eigens erbauten FKK-Gelände in Thielle und über Rundschreiben tauschten sich die Mitglieder des Kissinger Kreises in den folgenden Jahren intensiv aus. Ihr Ziel war es dabei, über eine Selbstreform eine Gesellschaftsreform anzustreben. Dazu diente ihnen zum einen die Selbsterfahrung, zum andern der Wissensaustausch. Weil sie zudem für ihre Reformgrundsätze lobbyierten, galten sie als radikal.
Ausgehend von diesem Beispiel, das Locher als repräsentativen Fall einer internen Opposition behandelte, stellte sie abschliessend einige Überlegungen zu internen und externen Machtverhältnissen der FKK und des Kissinger Kreis an. Abgesehen von Erwin Pröll, der innerhalb des Kissinger Kreises als prägender Stimmführer und Orientierungsfigur mit Vorbildfunktion bezeichnet werden kann, waren die hierarchischen Strukturen recht flach. Innerhalb der gesamten FKK-Bewegung hatte diese Opposition nicht viel Macht. Die Mainstream-FKK wiederum hatte auf die Gesamtgesellschaft nur einen beschränkten Einfluss, wie alle Gegenbewegungen vermochte jedoch auch die FKK einzelne Praktiken in die Gesellschaft einzubringen.

Das Ineinandergreifen von Elementen einer dominanten Praktik und einer Gegenbewegung erforscht auch PHILIPP KARSCHUCK mit seiner Studie über anthroposophische Sterbebegleitung seit den 1980er Jahren. In seinem Beitrag ging er insbesondere auf die Frage ein, wie diese Entwicklung die ursprüngliche, von Rudolf Steiner formulierte anthroposophische Ideologie veränderte. Rudolf Steiner (1861-1925) gilt als Begründer der Anthroposophie, einer bis heute bestehenden alternativreligiösen Bewegung. Sie wurde in Deutschland gegründet, etablierte aber bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihr geografisches Zentrum im Goetheanum in Dornach. Steiner und seine Nachfolger entwickelten spezifische Institutionen und Lehren für Bereiche der Erziehung, Medizin, Kunst und Landwirtschaft. Obwohl Anthroposophie stets eine nicht-hegemoniale Bewegung blieb, wurden einige Elemente sehr breit rezipiert, z.B. anthroposophische Medizin und Kosmetik, Steiner- oder Waldorfschulen. Voraussetzung dafür war, dass die Grundideologie der Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den „Nerv der Zeit“ traf, dass sie von Anfang an sehr gut organisiert, institutionalisiert und vernetzt war und dass sie aus ihren theoretischen Konzepten alltagspraktische Lösungen zu entwickeln vermochte.
Die Palliative Care, auf die Karschuck im zweiten Teil einging, entstand erst lange nach Steiners Tod. Sie basiert auf Elementen der Schulmedizin, anthroposophischer Seelsorge und ritueller Sterbebegleitung. Dabei wurden Steiners Konzepte und Lehren für andere Bereiche konkretisiert und näher an die medizinische Praxis gebracht. Dies führte schliesslich zu einem intensiven Austausch zwischen Anthroposophie und Schulmedizin, wobei sich insbesondere die anthroposophischen Konzepte stark veränderten. Deshalb beurteilt Karschuck die anthroposophische Palliative Care als Motor für die Weiterentwicklung und die Popularisierung der Anthroposophie.

Alle drei Beiträge verdeutlichten, wie alternative Lebensstile und Reformbewegungen eine bestimmte Form von Macht auf die Gesellschaft ausübten: Meist waren es einzelne Praktiken oder Ideologiefragmente, die sich allmählich von der Peripherie ins Zentrum der Gesellschaft verschoben. Dies geschah insbesondere dann, wenn die Vorstellungen und Ziele der Reformbewegungen dem Zeitgeist entsprachen.


Panelübersicht:

Rindlisbacher, Stefan: „Nacktheit ist sittlich“ – Entstehung, Konflikte und Etablierung der Freikörperkultur in der Schweiz (1900-1930)

Locher, Eva: „Auf die verschiedensten Arten will man die Welt verbessern“ – Lebensreformerische Gesellschaftsveränderung in den 1960er und 1970er Jahren

Karschuck, Philipp: Komplementärmedizin in der Palliative Care. Anthroposophische Sterbebegleitung seit den 1980er und 1990er Jahren

Veranstaltung
4. Schweizerische Geschichtstage
Organisiert von
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Université de Lausanne
Veranstaltungsdatum
Ort
Lausanne
Sprache
Deutsch
Art des Berichts
Conference