Die Lizentiatsarbeit untersucht die Entstehung und Entwicklung der Kinderkrippe als Fürsorgemodell in der Schweiz von 1870 bis 1950. In drei Abschnitten wird anhand des Diskurses, der über Krippen in Fachzeitschriften und populärwissenschaftlichen Blättern geführt wurde, sowie anhand der Umsetzung in der Stadt Bern aufgezeigt, welchen Stellenwert die Krippe hatte und welche Funktionen sie erfüllen musste. Dabei halten die Abschnitte jeweils einen spezifischen Prozess fest, der mit der Entwicklung des Sozialstaats korrespondiert (1870–1899; 1900–1927; 1928–1951). Die Arbeit orientiert sich an der Diskursanalyse und an der Theorie der Bedürfnisinterpretation der amerikanischen Philosophin Nancy Fraser. Diese Theorie ist Teil des ersten Kapitels. Es folgt ein Kapitel zur Geschichte ausserfamiliärer Betreuungsformen vor 1870. Das dritte, vierte und fünfte Kapitel sind die zentralen Untersuchungsteile. Die Arbeit endet mit den Schlussbetrachtungen.
Wie die Lizentiatsarbeit aufzeigen kann, wurde die Krippe als „notwendiges Übel“ im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vorab von Ärzten konzeptionalisiert. Vor dem Hintergrund des sozioökonomischen Wandels wurden die Bedürfnisse der Säuglinge der Arbeiterschaft zunehmend Thema einer öffentlichen Diskussion. Es handelte sich um Bedürfnisse nach „natürlicher“ Ernährung und „richtiger Pflege“. Legitimiert wurde die Krippe wissenschaftlich: Mit der Krippe galt es, die statistisch erwiesene Säuglingssterblichkeit zu bekämpfen. Dazu musste die Krippe wissenschaftlich begründeten Hygiene-Standards genügen; und den Arbeitermüttern die Möglichkeit bieten, in den Randstunden ihre Kinder zu stillen – die „rationellste“ Ernährungsweise. Die Kinderkrippen wurden dabei aber stets nur als Ersatz, als „nur unvollkommene Surrogate“ betrachtet.
Diese Funktionen verstärkten sich diskursiv in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Säuglingsfürsorge, wobei ganz generell das öffentliche Engagement im Fürsorgebereich aber auch auf sozialpolitischer Ebene zunahm. Hier erhielt das Krippenkonzept seinen grössten Stellenwert. Das Engagement für Kinderkrippen legitimierte sich zudem durch ein volkswirtschaftlich interpretiertes Bedürfnis des Staates nach gesunden, tüchtigen Kindern für die Zukunft.
Doch dieser Stellenwert ging ab Mitte der 1920er Jahre verloren. Die Säuglingssterblichkeit ging zurück und die bisher verteufelte künstliche Säuglingsnahrung wurde als „erträgliche Kompromisslösung“ eingestuft. Diese Entwicklung wurde gefördert durch den Reprivatisierungsdiskurs in den 1930er und 1940er Jahren. Verstärkt wurde der öffentliche Diskurs wieder beherrscht von der Argumentation, die Bedürfnisbefriedigung der Säuglinge sei einzig von der Mutter vorzunehmen (Familienschutzdiskurs). Dieser Prozess gründete zudem auf der sich nie geänderten Interpretation, dass die Erwerbstätigkeit der Frauen kein legitimes öffentliches Interesse darstellt.
Der Kinderkrippe ging auch eine ideologische Dimension verloren. Bis etwa Mitte der 1920er Jahre erfuhr die Krippe deshalb breite Unterstützung und etablierte sich in der Stadt Bern deshalb quantitativ, weil das Modell in die bürgerliche Ideologie integriert wurde: Sowohl Mutter wie auch Kind sollten im Sinne der Sozialdisziplinierung über eine Erziehung zur proletarischen Sittlichkeit Normen des Bürgertums eingepflanzt werden. Dabei wird deutlich, wie wohlfahrtsstaatliche Praktiken die Frauen und deren Bedürfnisse nach gewissen spezifischen Interpretationen konstruierten.
Die Experten der 1920er bis 1940er Jahre interpretierten die Krippe anders. Ein vorindustrielles Familien- und Mutterbild wurde propagiert und die Erwerbstätigkeit der Frauen beklagt. Zur Untermauerung zogen die Experten den statistisch nachweisbaren Geburtenrückgang heran. In der Krippe wurde nun ein Mittel gesehen, das die Erwerbstätigkeit der Frauen förderte und dem „Zerfall“ der Familie Vorschub leistete. In diese Zeit fiel auch der Krippenstopp in der Stadt Bern.
Die Experten gingen zu Beginn also davon aus, dass über die der Krippe eingelagerte ideologische Dimension die Klientel mit Geschlechterrollen und bürgerlichen Werten versorgt wird, um im Endergebnis die Erwerbstätigkeit der Frauen zu unterbinden. In der Phase des Familienschutzdiskurses stellten die Experten fest, dass die Ziele nicht erreicht werden. Die Krippe als bürgerliches, sozialkonservatives Modell scheiterte. Dabei verlor allgemein die Fürsorge mit ihrem Disziplinierungscharakter Vertrauen. Ebenso hatten sozialpolitische Massnahmen, wie die Mutterschaftsversicherung, keine Chancen, weil sie dem Schutz der traditionellen Familie zu wenig Geltung ver- liehen.