Verantwortung: Susanne Popp / Philipp Marti
Referierende: Dominic Studer / Justine Burkhalter / Angela Müller / Jasmin Gerig
Kommentar: Susanne Popp
Globalgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht können Unsichtbares sichtbar machen und dabei etwa ein kritisches Verständnis für den eigenen Standort fördern – die Potenziale und Grenzen entsprechender Ansätze auszuloten war das Ziel des Panels. SUSANNE POPP (Augsburg) erklärte in ihrer Einleitung, Globalgeschichte im Unterricht bedeute für sie, verkürzt gesagt, die Perspektivierung des behandelten Lehrstoffes. Das heisse also, einen breiteren Blick zu gewinnen, der letztlich auch erlaube, das Eigene, als selbstverständlich Empfundene besser zu verstehen.
Mit einer mittelalterlichen, aus europäischem Blickwinkel «umgekehrten» Karte illustrierte DOMINIC STUDER (Aarau) plakativ die eurozentrische Perspektive, die im Schweizer Geschichtsunterricht immer noch verbreitet sei. Im Rahmen des 2024 abgeschlossenen SNF-Projekts Globalgeschichtliche Perspektiven im Schweizer Geschichtsunterricht, das Studer in seinem Referat vorstellte, habe eine teilnehmende Lehrperson die Situation prägnant formuliert: Für Fachhistorikerinnen sei die Globalgeschichte anscheinend ein alter Hut, in der Schule sei sie aber eben noch nicht angekommen. Die Forschungsfrage des Projekts zielte denn auch auf die Herausforderungen und fachdidaktischen Potenziale, die sich aus der Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrpersonen mit globalgeschichtlich perspektivierten Unterrichtseinheiten ergeben.
Da es keine abschliessende Definition von Globalgeschichte gebe, habe man sich für das Projekt auf einige Kernkonzepte geeinigt, wie Studer erklärte. Dazu zählten die Überwindung nationalhistorischer Perspektiven und eurozentrischer Geschichtsbilder, die Anerkennung von Handlungsspielräumen aussereuropäischer Akteurinnen und Akteure sowie Multiperspektivität und Perspektivenwechsel. Diese Konzepte liessen sich gut in bestehende Unterrichtseinheiten und Inhalte integrieren, so Studer. Konkret kreierten interessierte Lehrpersonen und Fachhistorikerinnen und -historiker in einem gemeinsamen Workshop globalgeschichtliche Unterrichtseinheiten. Diese wurden dann während ihrer Durchführung im Klassenzimmer videografiert und Ausschnitte daraus für Interviews mit den Schülerinnen und Schülern sowie Lehrpersonen herangezogen. Aus diesen Interviews gehe hervor, dass die Schülerinnen und Schüler die global perspektivierten Unterrichtseinheiten als sinnvoll erachten sowie Eurozentrismus und globale Verflechtungen reflektieren. Auch als Aufforderung an die Fachwissenschaft gedacht, erklärte Studer abschliessend, es brauche mehr aufbereitete und zugängliche Quellen und Unterrichtsmaterialien, damit sich die Lehrpersonen in angemessener Zeit vorbereiten können.
Eine dieser im Rahmen des oben genannten Projekts entstandenen Unterrichtseinheiten thematisiert die Schweizer Schokolade. Entwickelt und bereits mehrfach in der Praxis verwendet wurde sie von JUSTINE BURKHALTER (Wetzikon). Burkhalter beschrieb den Einstieg in diese Einheit, bei dem die Schülerinnen und Schüler ihre persönlichen Assoziationen zu Schokolade artikulieren. Ein kleiner Teil der Jugendlichen äussere sich erfahrungsgemäss jeweils kritisch bezüglich sozialer Verträglichkeit und Nachhaltigkeit. Das liefere die Steilvorlage für ihre Unterrichtseinheit, die das nationale Narrativ der Schweizer Schokolade global perspektiviere. Nachdem gemeinsam Wissen zur Geschichte der Schokolade erarbeitet wurde, gelange man zu einer Zwischenthese: Die koloniale Geschichte der Schweiz wird verschleiert, die Geschichte der «Schoggi» wird zur Schweizer Geschichte gemacht. Im weiteren Verlauf des Unterrichts werde die indigene und die Schweizer Geschichte der Schokolade miteinander kombiniert erzählt – ein Spannungsfeld mit den zwei Polen Erfindertum und Aneignung eröffne sich. Anhand der Schokolade lasse sich so die Frage diskutieren, inwiefern die Schweiz als Land ohne Kolonien vom Kolonialismus profitiert hat. Hierbei gehe es darum, Globalgeschichte als Verflechtungsgeschichte und als Geschichte der Asymmetrien darzulegen. Burkhalter veranschaulichte ihre Ausführungen immer wieder mit Quellen und Materialien, etwa Werbeplakaten und Zeitungsartikeln, die sie im Unterricht nutzt. Abschliessend benannte sie einige Chancen, die sie in dieser Unterrichtseinheit sieht: Dazu gehörten etwa die hohe Beteiligung der Schülerinnen und Schüler oder Transfer und Metakritik, denn anhand der Schweizer Schokolade lasse sich die «Gemachtheit» von Geschichte gut thematisieren. Sie zählte allerdings auch Schwierigkeiten auf, etwa dass viele Archive von Unternehmen nicht zugänglich sind oder indigene Stimmen fehlen.
In der Diskussion wurde – wie schon nach Studers Beitrag – das Problem der Verfügbarkeit von globalgeschichtlichen Unterrichtsmaterialien und Quellen angesprochen. Burkhalter merkte etwa an, dass die im Rahmen des Projekts entstandenen Einheiten mangels Finanzierung nicht veröffentlicht werden konnten. Studer wies zudem darauf hin, dass Urheberrechte in diesem Sinne hinderlich sein können, weil die Nutzung des entsprechenden Materials mit Kosten verbunden ist.
Im letzten Beitrag präsentierten ANGELA MÜLLER (Luzern) und JASMIN GERIG (Luzern) eine temporär eingerichtete, interaktive Lernumgebung, die in Zusammenhang mit dem SNF-Projekt Postkoloniale Sichtbarkeit: Die Emanzipation der First Nations im Vergleich mit dem Schweizer Kanadabild entstanden ist. Die Geschichte der First Nations wurde im Rahmen der von der Pädagogischen Hochschule Luzern geführten Lernwerkstatt für Klassen der Sekundarstufe 1 und 2 sichtbar und erlebbar gemacht. Dem zentralen Prinzip «Nichts über uns, ohne uns» sei vor allem mit Oral History Rechnung getragen worden, wobei die Interviews viel interkulturelle Arbeit und den aufwändigen Aufbau eines Netzwerks von Personen in Kanada erforderten. Die indigenen Stimmen waren in der Werkstatt etwa auf Tablets zu hören, Biografien oder Zitate konnten zudem im Raum entdeckt werden. Die Werkstatt habe bewusst ein Überangebot zur Verfügung gestellt, das die Schülerinnen und Schüler mit wenig Druck und viel Eigeninitiative motivierte. Insgesamt sechs Themenblöcke umfasste die Lernwerkstatt, einer davon betraf den Bereich der Schule und behandelte etwa die «Umerziehung» in den residential schools, ein anderer den Aktivismus, wobei man auch erfuhr, dass Indigene bereits früh in der Schweiz aktivistisch tätig waren. Transnationale Verflechtungen zwischen der Schweiz und Kanada seien in der Werkstatt sichtbar gemacht worden, indem sie nebeneinander und miteinander auftauchen und erzählt wurden. Versehen war der Raum auch mit Fragen und Statements, die die Schülerinnen und Schüler zur Selbstreflexion ermutigten, beispielsweise der Satz «meine Muttersprache ist mir wichtig». Die Referentinnen führten weiter aus, wie die in Redaktionsteams organisierten Kinder und Jugendlichen aus dem Überangebot der Werkstatt Plakate kreierten. Während einem Monat hätten 20 Schulklassen, also rund 400 Schülerinnen und Schüler, die Lernwerkstatt besucht.
In der anschliessenden Diskussion wurden die Herausforderungen des Kontaktaufbaus mit indigenen Menschen für solche Projekte angesprochen und die dafür zentrale Bedeutung von Vertrauen betont. Aus dem Publikum wurde bemerkt, dass seitens indigener Institutionen durchaus Interesse an Schweizer Geschichte bestehe. Den ethnologischen Blick müsse man auch umdrehen und diese neue Perspektive miteinbeziehen, um so eurozentrische Geschichte effektiv überwinden zu können.
Panelübersicht:
Dominic Studer: Globalgeschichtliche Perspektiven im Schweizer Geschichtsunterricht: Empirische Erkenntnisse zu Potenzialen und Herausforderungen globalgeschichtlicher Lehr- und Lernprozesse aus einem Forschungs- und Entwicklungsprojekt
Justine Burkhalter: Unsichtbares im Geschichtsunterricht sichtbar machen: Schweizer Schoggi global perspektiviert
Angela Müller, Jasmin Gerig: «Nichts über uns, ohne uns». Wie starke indigene Stimmen Kanadas Eingang in Schulen finden