Verantwortung: Andreas Berger / Christa Schneider / Joachim Eibach
Referierende: Christa Schneider / Andreas Berger / Nathalie Dahn-Singh / Lorenz Dändliker
Kommentar: Martine Ostorero
JOACHIM EIBACH (Bern) verortete zunächst das Panelthema im Kontext der historischen Kriminalitäts- und Marginalisierungsforschung. Dabei eröffnen gerade jüngere Forschungstrends der Digital Humanities neue Möglichkeiten und Fragestellungen, mit denen Handlungsmotive und Handlungsspielräume marginalisierter Personen anhand frühneuzeitlicher Gerichtsakten sichtbar gemacht werden können.
CHRISTA SCHNEIDER (Bern) ging am Beispiel frühneuzeitlicher Hexenprozesse der Frage nach, wie Emotionen in Dokumenten aus der frühen Neuzeit identifiziert und erschlossen werden können. Konkret interessierte sich Schneider für den Salem Witch Paper Korpus und den Berner Hexenkorpus. Schneider prüfte zunächst, ob sich computergestützte Information-Extraction-Ansätze wie etwa die Sentiment Analysis (SA) dazu eignen, um emotionsgeladene Sprache in diesen nicht gelabelten Daten zu analysieren. Schneider arbeitete dafür mit dem Natural Language Tool Kit (NLTK) mit dem Ziel, subjektive Informationen, darunter Emotionen, aus den erwähnten Quellenkorpora zu identifizieren, zu extrahieren und zu quantifizieren. Gemäss Schneider lege eine erste Analyse des englischsprachigen Quellenkorpus mittels dem Opinion Lexikon des NLKT nahe, dass sich die Methoden der SA durchaus dafür eignen, diese Art der Quellen zu bearbeiten. Für die Analyse deutschsprachiger Quellenkorpora wurde das vortrainierte Tool VADER eingesetzt. Dieses Tool verwendet ein polaritätsbasiertes Lexikon, das jedem Wort einen Grundwert zuschreibt, der von verschiedenen Faktoren beeinflusst werden kann, beispielsweise Interpunktion oder Grossschreibung, und aufgrund dieser differenzierteren Analyse auch genauere Untersuchungsergebnisse ermöglicht. Schneider schloss ihren Vortrag mit der Beobachtung, dass allgemein nicht nur Quellenkorpora wachsen, sondern dass sich auch die entsprechenden Analysetools weiterentwickeln. So können auch in juristisch angelegten Texten wie beispielsweise Verhören mit Methoden der SA zunehmend Emotionen und emotionsgeladene Sprache sichtbar gemacht und so neue Perspektiven auf frühneuzeitliche Hexenprozesse sowie die sprachlichen Realitäten vormoderner Gesellschaften eröffnet werden.
Im zweiten Vortrag referierte ANDREAS BERGER (Bern) über die indirekte Selbsttötung von marginalisierten Personen in der Frühen Neuzeit, ein schwer greifbares und auch in der Forschung marginalisiertes Phänomen. Suizid war sowohl in weltlichen als auch geistlichen Kreisen stigmatisiert und galt als Kapitalverbrechen. Versuchter Suizid wiederum wurde mit dem Tod bestraft. Als Ausgangspunkt seines Vortrags stellte Berger eine doppelte Unsichtbarkeit fest: Einerseits wurden versuchte Suizide in vormodernen Gerichtsakten nicht als solche identifiziert, weshalb diese Quellen nach Handlungsmustern und Geständnissen der Verurteilten durchforstet werden müssten. Andererseits standen Täterinnen und Täter des versuchten Suizids oft am Rande der Gesellschaft und waren somit in dieser nicht sichtbar. Dennoch sei das Phänomen der indirekten Selbsttötung nicht selten gewesen. So seien rund 800 Fälle dokumentiert mit einer hohen Dunkelziffer. Die Analyse indirekter Selbsttötungen macht diese marginalisierten Gruppen sichtbar und zeigt insbesondere die Verbindungen von Emotionen, sozialen Notlagen und christlich-religiösen Vorstellungen auf.
NATHALIE DAHN-SINGH (Lausanne) stellte im dritten Vortrag die Erfahrungen von Gefängnisausbrechern und -ausbrecherinnen ins Zentrum und fragte nach den Gefühlen und Motivationen dieser Menschen aus der Perspektive der materiellen Geschichte. So können über das Thema Flucht die Handlungsspielräume und Solidaritätsnetzwerke eingesperrter Personen erschlossen werden. Nicht nur Gegenstände seien für die Flucht massgeblich gewesen, sondern auch Helferinnen und Helfer sowie Kenntnisse von Umgebung und Infrastruktur. Für die Gefängnisse selber bedeuteten diese Ausbrüche einerseits einen finanziellen Schaden, andererseits untergruben sie das Vertrauen in die Kompetenzen der Obrigkeiten. Viele Gefängnisse ergriffen deshalb Massnahmen, um Ausbrüche zu verhindern, darunter Kleiderordnungen. Dahn-Sing machte deutlich, dass diese materiellen Hinterlassenschaften, etwa Kleider oder Gegenstände, die zu Ausbrüchen verhalfen und in den Textquellen genannt werden, heute einen einzigartigen Einblick in materielle und personelle Netzwerke der Frühen Neuzeit ermöglichen.
Auch LORENZ DÄNDLIKER (Zürich) befasste sich mit grossen Datenmengen und einer computergestützten Methodik am Beispiel der Edition der Eidgenössischen Abschiede, die er mittels Distant Reading sowie Topic und Language Modelling analysierte. Konkret interessierte sich Dändliker dafür, wie verschiedene Personengruppen in diesen Abschieden konzeptualisiert und eingeteilt wurden. Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung war dabei, dass es in der Vormoderne noch kein normatives Gleichheitsideal gegeben habe. Damit einher gingen auch ungleiche Überlieferungschancen entsprechender Quellen. So entstanden die Eidgenössischen Abschiede in einem obrigkeitlichen Kontext mit Interesse an langfristiger Archivierung. Die in den Abschieden verhandelten Personengruppen haben indes nur höchst selten selbst Quellen hinterlassen, weshalb sich primär Kategorisierungen von aussen sowie Fremdbeschreibungen erhalten haben. Dändliker fasste diese Fremdbeschreibungen im Anschluss an Geraldine Hengs Ansatz des Race Making als Kategorisierungshandeln. Auf dieser Grundlage arbeitete er heraus, wie in ständig wiederkehrenden Verhandlungen Konzepte über diese Personengruppen gefestigt und sich zunehmend Diskriminierungspraktiken etabliert haben, die mithilfe der Eidgenössischen Abschiede sichtbar gemacht werden können. Zudem betonte Dändliker, dass die Eidgenössischen Abschiede nicht reale gesellschaftliche Verhältnisse dokumentieren, sondern vielmehr ein Versuch seien, diese aktiv und überregional zu formen.
In ihrem Kommentar stellte MARTINE OSTORERO (Lausanne) ein Paradox von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit fest: Marginalisierte Personen wurden in der Gesellschaft zwar unsichtbar gemacht, durch marginalisierende und stigmatisierende Praktiken sowie öffentliche Strafen wurden sie aber gleichzeitig sichtbar gemacht. Marginalisierte Personen hätten deshalb oft selbst keine eigene Stimme gehabt und keine Quellen produziert. Ausserdem ging Ostorero erneut auf die Herausforderung grosser Quellenkorpora ein, die einerseits mit der Suche nach Schlüsselwörtern relativ schnelle Analysen erlauben, andererseits aber auch neue Herausforderungen für die Forschung aufwerfen, zum Beispiel riesige Datenmengen, denen mit neuen Methoden, darunter eben den Digital Humanities, begegnet werden müsse. Ostorero plädierte zum Schluss für eine aufmerksame Recherche des verstreuten Quellenmaterials zu marginalisierten Personen und Personengruppen in der Frühen Neuzeit sowie dafür, diese Quellen gegen den Strich zu lesen.
Panelübersicht:
Christa Schneider: Emotionen in Hexenprozessen: Zur automatischen Identifikation verborgener Strukturen in grossen Datenkorpora
Andreas Berger: Verheerende Gefühlswelten: Indirekte Selbsttötung und die Sichtbarmachung des Unsichtbaren
Nathalie Dahn-Singh: Erfahrungen von Ausbrecher:innen: eine materielle Geschichte der Gefängnispopulation in der Schweiz im 18. Jahrhundert
Lorenz Dändliker: Sichtbar durch Diskriminierung? Zum administrativen Kategorisierungshandeln der eidgenössischen Orte im Spätmittelalter
Martine Ostorero: Kommentar