Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Harald
Fischer-Tiné
Institution
ETH Zürich, Institut für Geschichte, Lehrstuhl Geschichte der modernen Welt
Ort
Zürich
Jahr
2015/2016
Abstract
Dieses Projekt behandelt eine moral- und sozialreformerische Bewegung von globaler Reichweite, die Alkoholismus als „Geissel der Menschheit“ betrachtete. Die Antialkoholbewegung in den Ländern des Cono Sur (Argentinien, Uruguay und Chile) entfaltete sich vor dem Hintergrund nationaler Modernisierungsprojekte im post-kolonialen Lateinamerika und bündelte unterschiedlichste Strömungen von evangelikalen Temperenzlerinnen bis hin zu Anarchisten. Die Umdeutung der individuellen Trunkenheit von einer Sünde zur gesellschaftlichen Krankheit war Teil der weltweiten Expansion liberaler Gesellschaftsmodelle, in denen dem Individuum ein mehr an Selbstverantwortung zugeschrieben wurde. Innerhalb nach globalen Vorbildern strukturierter Institutionen nutzten medizinische und soziologische Experten analytische Methoden, um die nationalen Gesellschaften zu durchdringen und daran angepasste Rezepte zu entwickeln. Wissen über Alkoholismus wurde über transnationale Netzwerke angefragt und in den lokalen Kontexten angeeignet, um über Bildung und Aufklärung bürgerliche Moralvorstellungen als Teil eines nationalen Zivilisierungsprojekts zu etablieren.
Im Fokus stehen in der Dissertation Akteure, die sich in unterschiedlichen Interaktionsebenen und Erfahrungsräumen austauschten. Diese Studie geht den Spuren nach, welche die medizinisch ausgebildeten Aktivisten hinterliessen. Sie waren entscheidend für den Austausch von Wissen über transnationale Netzwerke sowie für die Etablierung dieses Wissens in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Sie waren die Akteure, welche die Suchtkrankheit des Individuums als gesellschaftliches Problem festlegten. Weltweit waren sie Protagonisten, den exzessiven Alkoholkonsum als deviantes Verhalten zu brandmarken. Medizinisches Wissen stellte das soziale Kapital für die Antialkoholbewegung dar, dessen sich auch evangelikale und katholische Reformer bedienten.
Anhand der Strategien zur Verbreitung dieses Wissens und deren Adaption soll nachgewiesen werden, inwieweit die Bewegung in die Gesellschaft ausstrahlte. Entgegen der Fokussierung auf der Prohibition als gesetzlichem Kontrollregime, untersucht diese Arbeit ein breites Spektrum an Aktivitäten der Antialkoholbewegung - von Bildungsmassnahmen, Theater, Literatur bis hin zur ‚Leibesertüchtigung‘. Jenseits gesetzlicher Regelungen und polizeilicher Repression wurden vielfältige Massnahmen zur Disziplinierung und Praktiken der Subjektivierung angewandt. Die Antialkoholbewegung fand ihren stärksten Ausdruck in der Mitte einer Zivilgesellschaft, welche die Disziplinierung des Selbst über die Popularisierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in einer liberalen Weltordnung vorantrieb. Diese transportierten meist bürgerliche Familienideale, die ebenso im Konstruktionsprozess der Nation den Geschlechterbildern eines gesunden und starken Mannes als Ernährer der Familie und einer ‚reinen‘ und aufopfernden Ehefrau entsprachen. Vor diesem Hintergrund sind durch Alkoholismus ausgelöste Degenerationsängste und die moral panic zu interpretieren. So überschnitten sich in den Debatten um die ‚Gesellschaftskrankheit‘ Alkoholismus Nationskonstruktionen, Geschlechterbilder und Wissenschaftsdiskurs. Als Teil einer globalhistorischen Forschungsgruppe berücksichtigt die vorliegende Studie zudem aktuelle Forschungserkenntnisse aus anderen Regionen.