Memoria mendax. Methodische Überlegungen zur Untersuchung falscher Erinnerung am Beispiel der Berner Chronica Ludwig Schwinkharts

AutorIn Name
Andri
Schläpfer
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Regula
Schmid Keeling
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2022/2023
Abstract

Dass Erinnerungen zuweilen trügerisch sein können, darf als Binsenweisheit gelten. Dessen ungeachtet, stützt sich das, was im alltäglichen Umgang als „wahres“ Ereignis (im Sinne eines tatsächlichen Geschehenseins) aufgefasst wird, schwergewichtig auf die individuelle Wahrnehmung und Erinnerung. Zu jeglicher kommunikativen Verarbeitung einer Zeugenaussage gehört ein „Screening“ der bezeugenden Person und deren emotionaler Disposition, welches automatisch abläuft. So wird von „gefärbten“ Aussagen, von „tendenziöser“ Berichterstattung oder „unzuverlässiger“ Zeugenschaft gesprochen, wenn eine besonders ausgeprägte Haltung der anderen Person zum von ihr bezeugten Ereignis vermutet wird, die der möglichst objektiven Beschreibung des Geschehenen entgegenstehen könnte. Für den Umgang mit Aussagen von nicht mehr lebenden Zeugen, deren textliche Hinterlassenschaften allein zu befragen sind, hat sich seit dem 19. Jahrhundert die historisch-kritische Methode etabliert, die einen wachen Sinn für politische Verstrickungen, Intentionen und emotionale Neigungen, die Aussagen von Personen färben könnten, aufweist. Bei genauerer Betrachtung fällt indes auf, dass der erwähnten Binsenweisheit des trügerischen Potentials von Erinnerungen zu wenig Rechnung getragen wird – ja sie für den Umgang mit (Selbst-)Zeugnissen historischer Akteurinnen oder Akteure, die stets individuelle Erinnerungen sind, gänzlich aus dem Blick gerät. Die Linse der Quellenkritik historischer Zeugenaussagen nimmt beinahe ausschliesslich die intentionale Ebene der (be-)zeugenden Subjekte in den Blick – so werden Fragen nach der soziokulturellen Verortung des Adressaten oder der Adressatin, nach der erwünschten Wirkung eines Textes (etwa im Fall einer herrschaftlichen Chronik) oder seiner Eingliederung in narrative Traditionen und textliche Ausdrucksformen der Zeit gestellt.

 

Angesichts des heutigen Wissensstands über die Mechanismen der Entstehung von Erinnerungen innerhalb der Kognitionspsychologie erscheint dies jedoch nicht ausreichend. Seit den frühen 1970er Jahren fördern Experimente mit menschlichen Gedächtnisinhalten Erstaunliches zutage: So beschrieben etwa Teilnehmende eine Ballonfahrt, an die sie sich mit aller Klarheit zu erinnern meinten (und die nachweislich nie stattfand), erinnerten sich alliierte Veterane bar jeden Zweifels an jedes furchtbare Detail ihrer Landung in der Normandie im Jahr 1944 – und schilderten doch, ohne es zu wissen, die Handlung eines bekannten Kriegsfilms. Fernab davon, wie ein Videorekorder zu funktionieren, stellt sich menschliche Erinnerung als ein Produkt retroaktiver Interferenz mit dem Gedächtnis dar, das sich stets erst im Augenblick ihres Abrufs zu formen scheint. In der Psychologie gewonnene Erkenntnisse über die stetige (Ver-)Formbarkeit des menschlichen Gedächtnisses, die unter dem Konzept der „false memories‟ zusammengefasst werden, müssen gerade für ein historisches Erkenntnisinteresse an einer vergleichsweise schriftarmen Zeit wie dem Mittelalter von grosser Relevanz sein. Die vorliegende Untersuchung setzt sich zum Ziel, einen möglichen Ansatz zu psychologiegeleiteter Quellenkritik an einer einzelnen Quelle durchzuexerzieren. Hierfür nimmt sie die wenig bekannte Berner Chronik des Ludwig Schwinkhart (1495 – 1522) in den Blick. Schwinkharts Chronik kann als ein Selbstzeugnis eines sozialen Aufsteigers interpretiert werden, die, obgleich der Autor in ihr nur selten Erwähnung findet, mit einem spezifisch bernisch-eidgenössischen Blick über einen knapp fünfzehnjährigen Zeitraum eidgenössischer Machtpolitik berichtet.

 

Mit Rückgriff auf die kognitionswissenschaftliche Forschung kann festgehalten werden, dass den in der älteren Literatur zuweilen geäusserten Vermutungen über Schwinkharts persönliche Anwesenheit in den Italienkriegen (und besonders in den Schlachten von Pavia 1512 und Marignano 1515) mit grosser Skepsis begegnet werden muss. So liegt der Beitrag der Untersuchung in einer zweifachen Nuancierung: Einerseits vermag allein die Tatsache, dass ein Ereignis von einem Chronisten detailreich geschildert wird, noch kein Argument für dessen Anwesenheit zu sein. Auch falsche Erinnerungen können mit einem hohen Detailgrad wiedergegeben werden. Andererseits kommt die Untersuchung zum Ergebnis, dass eine trennscharfe Unterscheidung zwischen effektiver falscher Erinnerung und literarischem Zeugenschaftstopos nur in Ausnahmefällen möglich ist. So bleibt das Potential einer methodischen Operationalisierung, zusätzliche historische Erkenntnisse zu generieren, gering – der „Schleier der Erinnerung“ entzieht sich seiner Lüftung.

Zugang zur Arbeit

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