Männliches Europa – Weiblicher Orient. Die Tradierung und Kontextualisierung des aufklärerischen Orientbildes in Montesquieus Lettres Persanes und De l’Esprit des Lois

AutorIn Name
Natalie
Trummer
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Peter
Blickle
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2000/2001
Abstract

Die Lizentiatsarbeit befasst sich mit der Frage, wie kulturelle Differenzen wahrgenommen, empirisch überprüft, theoretisch verarbeitet und politisch instrumentalisiert werden können. Die zugegeben sehr komplexe und weitgeschnittene Fragestellung wird an zwei Werken des französischen Staatstheoretikers Charles Montesquieu (1689–1755) aufgezäumt: dem Briefroman Lettres Persanes und dem staatstheoretischen Hauptwerk De l’Esprit des Lois. Die Arbeit ist in eine Einleitung, zwei Hauptteile und einen dritten Teil gegliedert. Letzterer schliesst mit dem Versuch, die kulturhistorische Tradierung des europäischen Orientbildes mit der Despotietheorie Montesquieus kurz zu schliessen und damit ein kulturhistorisches Argument für die europäische Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts zu präsentieren.

 

Im ersten Teil wird das Orientbild, geprägt durch die Reconquista, Türkenkriege und Erbfeindtheorien nachgezeichnet, um anschliessend Montesquieus Orientbild aus dem Roman herausarbeiten und in die französische Gesellschaft einbetten zu können. Zwei Konstanten, die sich bereits im europäischen Orientbild der Vergangenheit finden, wiederholen sich im Roman und im zeitgenössischen Diskurs: die beherrschten und die herrschenden Protagonisten im orientalischen Harem, eine Konstellation, die mit den Worten Gewalt und Erotik auf eine Kurzformel gebracht werden kann. Das Bild der eingesperrten Frauen im Harem in Persien, die Usbek – der Hauptprotagonist des Romans – zu Gunsten seines Wissensdurstes in Persien zurücklässt, gestaltet sich zu einer Rahmengeschichte mit dramatischem Ausgang. Sind die eingesperrten Frauen zu Beginn noch fügsam und keusch, werden sie im Laufe der Geschichte, je länger ihr Herr und Meister wegbleibt, mutiger und freiheitsbewusster. Vor allem die Lieblingsfrau von Usbek, Roxane, lehnt sich gegen die ihr zugesprochene Rolle auf. Der sich abzeichnende Aufstand der Frauen im Harem wird auf den Befehl Usbeks von den Eunuchen niedergeschlagen; trotzdem bleibt Roxane Siegerin, indem sie den Freitod wählt und sich damit der Rache des orientalischen Despoten entzieht.

 

Die Emanzipationsversuche im Harem steigern sich in dem Masse, wie den Frauen klar wird, dass Usbek sich immer weiter von ihnen entfernt. Er dagegen realisiert zu spät, dass seine Macht als Herrscher nicht weit und furchterregend genug ist, um die Ordnung wieder herstellen zu können.

 

Der zweite Teil der Arbeit wendet sich dem Hauptwerk Montesquieus zu: De l’Esprit des Lois ist sein Spätwerk und gleichzeitig sein umfangreichstes Werk. Entsprechend der Zeit sucht es auf empirischer, philosophischer und historischer Ebene die beste aller Staatsformen. Dabei stehen der Monarchie und den Republiken die Despotie, namentlich die orientalische Despotie gegenüber. Im Hinblick auf die Fragestellung geht es in diesem Teil im Wesentlichen um die Abgrenzung zwischen der französischen Monarchie und der orientalischen Despotie. Der begrifflichen Herleitung des Begriffs «Despotie» wird dabei viel Raum eingeräumt. Wichtig für die Fragestellung ist, dass im Gegensatz zu Aristoteles – der die Despotie als eine entartete Monarchie betrachtet – in Montesquieus Theorie die Despotie ein Synonym für esclavage politique und servitude politique ist und so das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten als eine Art politischer Leibeigenschaft versteht, die sich am ehesten, so Montesquieu, in den asiatischen Ländern finden lässt. Auf ziviler Ebene spiegelt sich diese politische Leibeigenschaft in der Sklaverei und in der spezifisch orientalischen Unterdrückung der Frauen.

 

Die Quintessenz liegt nun darin, dass der staatstheoretische Begriff «Despotie» von Montesquieu mit Inhalten gefüllt wird, die er in den Lettres Persanes dem Harem und seinen Protagonisten zugesprochen hat. Ersichtlich wird dies, wenn die aus den zwei Hauptteilen entstandenen Folien übereinander gelegt werden: Die Rahmengeschichte in den Lettres Persanes wird zu einer Theorie der orientalischen Despotie, wie sie Montesquieu in De l’Esprit des Lois beschreibt.

 

Dadurch wird die orientalische Despotie zu einem Konstrukt, das im Wesentlichen dem Empfinden und der Phantasie Montesquieus – weitergegriffen dem Orientbild Europas – entspricht. Das Konstrukt wird dadurch zu einem «weiblichen Orient», einem geheimnisvollen Ort des Irrationalen, der nicht nur faul, träge, erotisch und schwül ist, sondern ebenso gewalttätig und engstirnig, menschenbzw. frauenverachtend ist, kurz: dem Bild des Tyrannen und der unterdrückten Sklavin entspricht. Auf staatstheoretischer Ebene führt dies zu einem rationalen Pendant, das in der vorliegenden Studie als «männliches Europa» bezeichnet wird. Der starke, kriegerische, intellektuelle Okzident kann damit die kolonialen Eingriffe – bestes Beispiel ist Napoleons Abenteuer in Ägypten – bestens legitimieren, indem er den weiblichen, emotionalen, unbeherrschten, irrationalen Orient mit den Instrumenten des männlichen, rationalen und aufgeklärten Okzident zu domestizieren versucht.

Zugang zur Arbeit

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