Lungenpest an der Schweizer Grenze? Verlauf und Bekämpfung der Spanischen Grippe in St. Gallen mit Berücksichtigung der transnationalen Beziehungen zu Liechtenstein und Vorarlberg

AutorIn Name
Mario
Baumgartner
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Silvia
Berger Ziauddin
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2022/2023
Abstract

Die Spanische Grippe erreichte die Schweiz im Mai 1918 und forderte innerhalb eines Jahres über 24'000 Todesopfer. Diese grösstenteils unbekannte Influenzaerkrankung stellte die damalige Wissenschaft auf die Probe, da die Mittel der Bakteriologie bei dieser Krankheit keinerlei Wirkung zeigten. Die Behörden setzten folglich auf eine Begrenzung der Ausbreitung der Krankheit. Dazu erteilte der Bund den Kantonen und Gemeinden eine Bevollmächtigung zur Einberufung von Versammlungsverboten, zog sich aber gleichzeitig aus der Bekämpfung zurück.

 

Da durch den vom Bund gewählten föderalistischen Ansatz zur Bekämpfung der Epidemie die Massnahmen der Schweiz jeweils kantons- und gemeindespezifisch unterschiedlich ausfielen, ist eine Erforschung der Bekämpfung der Spanischen Grippe in der Schweiz auf der Kantonsebene sinnvoll. Deshalb untersucht die Masterarbeit die Spanische Grippe im Kanton St. Gallen. Mit Protokollen vom St. Galler Regierungsrat und von der St. Galler Sanitätskommission soll der Verlauf sowie die Bekämpfung der Spanischen Grippe für die Jahre 1918–1920 rekonstruiert werden. Da St. Gallen auf eine lange Geschichte der engen Beziehungen mit Vorarlberg und Liechtenstein zurückblickt, soll in dieser Arbeit zudem untersucht werden, welche Rolle transnationale Verflechtungen im Verlauf und bei der Bekämpfung der Spanischen Grippe in diesen drei Regionen spielten. Die Spanische Grippe erreichte St. Gallen im Juni 1918 durch Solothurner Soldaten, die nach St. Gallen für den Grenzschutz entsandt worden waren. Die Spanische Grippe brach somit zuerst unter den Soldaten aus, bevor sie im Juli auf die Zivilbevölkerung übergriff. Die erste Welle erreichte ihren Höhepunkt Ende August mit 1’850 angezeigten Fällen, die vor allem aus den östlichen St. Galler Bezirken kamen. Nach einem Abklingen der Grippe Anfang September breitete sich eine weitere Welle Ende September vom Bezirk Gossau her aus und erreichte ihren Höhepunkt Mitte Oktober mit 6'929 wöchentlich angezeigten Fällen. Diese mit Abstand stärkste Welle ging nur schleppend wieder zurück und liess die Fallzahlen Ende November mit einer Nachwelle nochmals auf knapp 4'000 pro Woche steigen, bis sie Anfang 1919 verschwand. Im Frühjahr 1920 brach die Spanische Grippe abermals mit einer kleineren Welle herein, bei der zum Höhepunkt wöchentlich 3'000 Fälle zur Anzeige gelangten. Im Jahr 1918 wurden im Kanton St. Gallen insgesamt 64'680 Grippefälle gemeldet, 1'436 Personen starben in diesem Jahr an der Spanischen Grippe. Die Grippefälle verteilten sich jedoch ungleichmässig auf die Bezirke, sodass im Bezirk See eine Morbidität von 27% und im Bezirk Oberrheintal eine Morbidität von 13% verzeichnet werden konnte. Auch innerhalb der Bezirke gab es zwischen den einzelnen Gemeinden grosse Unterschiede.

 

Der St. Galler Regierungsrat, obwohl um eine Informationssammlung und Aufklärung bemüht, nahm in der Bekämpfung der Spanischen Grippe eine passive Rolle ein. Da er eine kantonsweite Bekämpfung als nicht zweckmässig empfand, übertrug er die Verantwortung der Grippebekämpfung auf die Gemeinden, die für ihr Gemeindegebiet die vom Bund übertragenen Vollmachten nutzen sollten. Dabei stand ihnen der Regierungsrat mit der Sanitätskommission beratend zur Seite. Die gewählte Strategie des Regierungsrates funktionierte allerdings nur bedingt, da Gemeinderäte teilweise keine Massnahmen erliessen, obwohl die Schwere der Grippesituation dies verlangt hätte. Der Regierungsrat sah sich deshalb gezwungen, selbst Massnahmen einzuführen. Er konzentrierte sich hierbei auf ein Tanzverbot, welches er anlässlich der Kirchweihfeiern im Oktober 1918 auf den ganzen Kanton ausweitete und bis im Frühjahr 1919 aufrechterhielt. Unabhängig davon ermächtigte er den Erziehungsrat zur Verlängerung der Ferien der kantonalen Lehranstalten und erteilte einen Beschluss zur Urnenabstimmung wichtiger Traktanden, deren Notwendigkeit sich durch Versammlungsverbote einiger Gemeinden ergeben hatte. Mit dem scheinbaren Ende der Epidemie Anfang 1919 war der Regierungsrat vor allem um die finanzielle Bewältigung der Epidemie bemüht. Im Frühjahr 1920 erliess der Regierungsrat wegen der erneuten Grippegefahr abermals ein kantonales Tanzverbot.

 

Der Einfluss transnationaler Verflechtungen lässt sich vor allem im Verlauf der Spanischen Grippe erkennen, da die Krankheit durch die in der Schweiz arbeitssuchenden Grenzgänger:innen nach Vorarlberg und Liechtenstein eingeschleppt wurde. Eine Transnationalität in der Bekämpfung ist hingegen nur schwach ersichtlich, da sich die Regierungen bei der Bekämpfung der Spanischen Grippe jeweils an vergangenen Epidemien ausrichteten und dabei weniger auf ihre Nachbarn achteten. Nur in Liechtenstein kann eine transnationale Bezugnahme erkannt werden, da die Regierung mit Bekämpfungsmassnahmen im August 1918 noch abwartete, weil die umliegenden Regionen ebenfalls keine unternommen hatten.

Zugang zur Arbeit

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