Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Rohr
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2020/2021
Abstract
Die Anfänge der anatomischen Arbeit in der Stadt Bern reichen ins 16. Jahrhundert zurück. Die früheste Erwähnung einer Leichensektion findet sich im Berner Ratsmanual von 1571; die „Leichenöffnung“ sollte Aufschluss über eine damals grassierende Krankheit geben.
Das erste Institut kam in Form von Albrecht v. Hallers Theatrum Anatomicum (1735/1740), gelegen im „Oberen Spital“. Trotz kurzer Betriebsdauer setzte Haller ein Ausrufezeichen und machte Bern vorübergehend zu einem Zentrum der Anatomiekunde. Ein zweiter Anlauf erfolgte am privaten Medizinischen Institut (1797–1805), als das Burgerspital den Anatomen Unterrichtsräume zur Verfügung stellte. 1805/06 entstand an der Gasse „Hinter den Speichern“, im Garten des Mädchenwaisenhauses, das Anatomische Institut der Akademie. Einen Quantensprung markierten die Gründung der Universität Bern um 1834 und das 1836 bezogene Anatomische Institut an der „Anatomiegasse“ (Genfergasse). Während Jahrzehnten hausten die Anatomen in Nachbarschaft zum Grossen Zuchthaus am Bollwerk, der einst grössten Strafanstalt in der Schweiz. Das Anatomische Institut zog 1897 an die Bühlstrasse um, wo es sich bis heute befindet – unter dem Namen Institut für Anatomie.
Für die medizinische Ausbildung sind die Körper von Verstorbenen unerlässlich; sie sind besondere Lehrmittel von unschätzbarem Wert. Am
Berner Institut wird der Bedarf an Körpern heute ausschliesslich durch freiwillige Körperspender und -spenderinnen gedeckt, die sich selbst zu Lebzeiten mit einer hinterlegten Letztwilligen Verfügung der Anatomie vermacht haben. Ein Blick in die Institutsgeschichte offenbart, dass Körperspender eine jüngere Entwicklung darstellen. Erst seit den 1980er Jahren kann sich der Lehrbetrieb vollumfänglich darauf stützen. In welchem Jahr der erste Körperspender an der Anatomie Bern einging, lässt sich aufgrund von Überlieferungslücken nicht mit Sicherheit eingrenzen. Die älteste noch erhaltene Erklärung zur Körperspende stammt aus dem Jahre 1936 – der Körperspender verstarb 1943.
Davor war die Berner Anatomie auf die Hilfe Dritter angewiesen, einerseits auf Überweisungen von Verstorbenen aus Spitälern, Psychiatrien, Gefängnissen und Armenhäusern, andererseits auf Freigaben durch Regierungsstatthalter, Gemeindevorstände, Polizeibehörden und Institute der Universität Bern (Pathologie, Rechtsmedizin). Jene eingewiesenen Verstorbenen waren keine Körperspender, weil sie sich zu Lebzeiten nicht persönlich für eine derartige Verwendung ihres Körpers nach dem Tod ausgesprochen hatten. Stattdessen war ihre Abtretung an die Anatomie durch Institutionen, durch Behörden oder selten durch Angehörige veranlasst worden. Bei den verabfolgten Toten handelte es sich mehrheitlich um Personen, die keine Hinterbliebenen hatten, um deren Beerdigung sich niemand gekümmert hatte oder, bei Fundleichen, deren Identität nicht ermittelt werden konnte. Der Bezugsradius der Anatomie erstreckte sich auf das ganze Kantonsgebiet, ausserkantonale Überweisungen waren aufgrund der Konkurrenz mit der Basler und der Zürcher Anatomie rar.
Die Masterarbeit spürt diesen einstigen „Versorgungskanälen“ bis zum Eingang des ersten belegten Körperspenders 1943 nach und blickt auf die während Jahrzehnten von Leichenmangel geplagte Versorgungslage, das Ringen um die Köper von Verstorbenen sowie die Bestrebungen um rechtliche Absicherung.
Dafür greift die Masterarbeit auf einen breiten Quellenbestand zurück: Den Anfang machen die Berner Ratsmanuale des 16. bis 18. Jahrhunderts, Akten der Stadtkanzlei und Protokolle der Seckelschreiberei. Für die Ära am Medizinischen Institut (1797–1805) werden Manuale des Berner Sanitätsrats und das Dekretenbuch der Verwaltungskammer herangezogen. Wie sich die Anatomie
an der Akademie (bis 1834) veränderte, zeigen Dossiers der Medizinischen Fakultät und Manuale der Kuratel. Anschliessend stehen Hochschulakten und ein umfangreiches Institutsarchiv zur Verfügung, um die Entwicklung der universitären Anatomie zu verfolgen.
Das Herzstück bilden die unmittelbar im Leichendienst entstandenen Zeugnisse, insbesondere der Leichenrodel, der von 1889 bis 2001 geführt wurde, ist von einzigartiger historischer Relevanz. Die Prosektoren erfassten darin alle am Institut eingegangenen Verstorbenen mit Namen, Alter und Abholort. Auch erzählt der Leichenrodel von Verstorbenen, die nach einer verfrühten Überweisung an Angehörige zurückgingen. Damit eröffnet der Leichenrodel für den Schweizer Raum neue Möglichkeiten, die frühere „Leichenversorgung“ an der Berner Anatomie zu erforschen, indem er eine qualitativ-quantitative Auswertung erlaubt, woher die Leichen stammten und aus welchen sozialen Gruppen sich diese zusammensetzten.