Gefühle und ästhetische Theorien im Angesicht der Gewaltgeschichte

9. Oktober 2025 bis 10. Oktober 2025
Tagung

Ästhetische Theorien sind oft an bestimmten Leitgefühlen und Gefühlskonzepten ausgerichtet. Gefühle sind hingegen ästhetisch verfasst – sie werden erfahren und ausgedrückt in Zusammenhang mit Narrativen, Fantasien oder Körperbildern. Gefühle und Ästhetiken wiederum sind beide historisch situiert, das heißt, dass sie bestimmten historischen Kontexten entspringen und – mal explizit, mal implizit – in diese eingreifen. Der Workshop Gefühle und ästhetische Theorien im Angesicht der Gewaltgeschichte sucht das Wechselverhältnis von ästhetischen Theorien, Gefühlen und ihren historischen Erfahrungsräumen anhand von exemplarischen Untersuchungen zu erkunden. Ein besonderer Fokus soll dabei auf solchen Theorien und Gefühlen liegen, die auf der einen Seite Fragen der Gewalt, Macht und Unterdrückung berühren, und auf der anderen Seite Fragen des Überlebens, des Widerstandes und der Reparation.

Ästhetische Theorien und ihre Gefühle
Wichtige Impulse für diese Fragen stammen aus dem Umfeld des Chicago Feel Tank und der gegenwärtigen ästhetischen Theorie. So heterogen diese Ansätze sind, verbunden sind sie durch die gegenwartsdiagnostische und gefühlsorientierte Analyse von Künsten, populärer Kultur und ästhetischen Praktiken. So untersucht Ann Cvetkovich in Depression: A Public Feeling das feeling bad als einen mehr-als-individuellen Zustand, der eine historisch-politische Diagnostik ermöglicht, von ästhetischen Sorgepraktiken gelindert werden kann und der durch spekulative Genealogien anders als medizinisch gerahmt werden muss. Sianne Ngai hat in Our Aesthetic Categories und Ugly Feelings an der Neukonturierung von ästhetischen und Gefühls-Kategorien wie dem Süßen oder der „animatedness“ gearbeitet und sie kritisch auf kapitalistische Lebensformen zurückbezogen. Lauren Berlants Konzept des cruel optimism beschreibt eine Haltung, die vor dem Hintergrund der Aufkündigung des Versprechens von Aufstiegsmobilität und neoliberaler Prekarisierung gleichzeitig das Subjekt beschädigt und ihm eine lebensbejahende Bindung an die eigene Zukunft ermöglicht. Hieraus resultieren eine Reihe von Fragen: Inwieweit sind Künste ein privilegierter Zugangspunkt, um Gefühle zu denken, zu identifizieren, herzustellen oder zu verändern? Wieso und wie arbeiten gerade politisch orientierte Theorien mit Leitgefühlen und Paradigmen aus den Künsten? Inwiefern werden ästhetische Theorien durch die Setzung von zentralen Gefühlen bestimmt?

Gefühle und ihre Geschichte
Solche Einzelanalysen und Reperspektivierungen von ästhetischen Kategorien und Gefühlen gewinnen an Kontur durch ein stärkeres Augenmaß für die Historizität und Philosophie von Gefühlen. So hat William Reddy den Begriff der emotional regimes geprägt, um normative, kollektive Gefühlsordnungen zu beschreiben. Monique Scheer spricht von „emotionalen Praktiken“, die die Erfahrung und den Ausdruck von Gefühlen modulieren und modellieren. Forscher:innen wie Ute Frevert, Jan Plamper, Frank Biess und Bettina Hitzer haben grundlegend die Geschichtlichkeit und Geschichte von Emotionen und ihrer disziplinären Einhegung untersucht – dazu gehören Untersuchungen der Wissenschaftsgeschichte von Gefühlen zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, der methodologischen Frage von Gefühlen in der Historiografie oder Untersuchungen von Einzelgefühlen wie der „deutschen Angst“, Mitgefühl oder Ehre. Solche Perspektiven betonen die Wandelbarkeit, Gemachtheit und Hybridität von Gefühlen und helfen, sie nicht zu unpolitischen, individuellen und isolierten Entitäten zu verklären. Über welche Gefühle und ihre (ästhetischen) Praktiken lassen sich Kontexte von Gewalt, Macht und Unterdrückung sowie von Überleben, Widerstand und Reparation neu denken? Inwieweit sind Gefühle besonders von ästhetischen Praktiken beeinflusst? Wo markieren Künste oder ästhetische Theorien Brüche in der Geschichte von Gefühlen?

Gewalt und Reparation
Im Kontext einer Historiographie des Wechselverhältnisses von Gewalt, Widerstand und Überleben spielen Fragen des Sinnlichen, des Ephemeren, von Wahrnehmung und Gefühlen, von Zeit, Raum und Körperlichkeit eine zunehmende Rolle, gerade auch um sich der Perspektive der Gewaltbetroffenen anzunähern, die oft nur über fragmenthafte, a-diskursive, geradezu stumme Quellen zu erschließen sind. So hat Iris Därmann im Kontext der Shoah nach aisthetischen Widerstandsformen in Auschwitz-Birkenau wie etwa dem Sammeln von Träumen gefragt. Und Nikolaus Wachsmann hat eine Annäherung an die gelebte Erfahrung der Lagerhäftlinge als ein wichtiges Forschungsdesiderat genannt. Eine solche Orientierung auf die Sinnlichkeit und Kreativität des Überlebens führt zu einer methodologischen Erweiterung historiografischen Arbeitens als ihr mit klassischen Quellen wie bürokratischen Dokumenten nicht beizukommen ist und Umwege über ästhetische und künstlerische Quellen und Zeugnisse vonnöten sind. Im Workshop sollen gerade anhand über die Analyse des Ästhetischen und Emotionalen ein solcher Zugang zu epistemisch schwer erreichbaren, minorisierten Perspektiven erprobt werden. Wie erlaubt die Fokussierung von emotionalen und kreativen Praktiken eine Erweiterung der Geschichtsschreibung von Widerstand und Überleben? Wo hilft eine Sensibilisierung für ästhetische Formen bei der Lektüre von marginalen, ephemeren oder beschädigten Quellen? Inwiefern werden Gefühlsregime ästhetische Theorien vor dem Hintergrund ihrer historischen Genealogien neu lesbar?

 

Programm

Donnerstag, 09. Oktober 2025

13:00 – 13:15 Begrüssung (Sebastian Köthe)

13:30 – 14:30 ‚God, if there is a god, you have to see it for me‘ – das Erhabene der Verwüstung“ (Henrike Kohpeiß)

14:45 – 15:45 Kommodifizierter Schmerz: Performancekunst durch Sanitisierung erhalten (Nausikaä El-Mecky)

15:45 – 16:15 Pause

16:15 – 17:15 Emotion als Erkenntnis: Künstlerische Auseinandersetzung mit Gewalt (Larissa-Diana Fuhrmann)

17:30 – 18:30 Nie wieder, immer wieder. Von der Erinnerung an Pogrome zum genozidalen Rachekrieg (Aurélia Kalisky)

Freitag, 10. Oktober 2025

9:00 – 10:00 Trauer und der Verlust der Weltbeziehung (Susanne Schmetkamp)

10:15 – 11:15 ‚Der letzte Trost dahin.‘ Trost und Untröstlichkeit in den Handschriften Salmen Gradowskis(Sebastian Köthe)

11:15 – 11:45 Pause

11:45 – 12:45 Tribunalisierungsvorwurf, Tribunalisierungskritik und Tribunalisierungsapologie in den Wiener Prozessen (Lisa Stuckey)

12:45 – 13:30 Abschlussdiskussion

Organisiert von
Forschungsschwerpunkt Ästhetik, Zürcher Hochschule der Künste

Veranstaltungsort

Toni-Areal
Pfingstweidstrasse 96
8005 
Zürich

Kontakt

Sebastian Köthe
Sprachen der Veranstaltung
Deutsch

Kosten

CHF 0.00