Erinnerung im Umbruch: Untersuchungen zu Entstehung, Verwendung und Wirkung höfischer Chroniken im Frankreich des 15. und frühen 16. Jh. am Beispiel der "Grandes Chroniques de France".

AutorIn Name
Thomas
Schwitter
Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Hesse
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2014/2015
Abstract


In der bisherigen Forschung zur herrschaftsnahen französischen Historiographie des 15. und frühen 16. Jahrhunderts standen vor allem einzelne Autoren und ihre Werke im Fokus. Daneben beschäftigen sich einige Studien mit der Entwicklung der Darstellung bestimmter Ereignisse oder politischer Vorstellungen innerhalb der Historiographie. Die vorliegende Studie baut darauf auf, führt diese Arbeiten zusammen und liefert, unter Einbezug bisher kaum untersuchter historiographischer Quellen, die erste Gesamtdarstellung der Entwicklung der französischen Historiographie im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Dabei bildet die Darstellung der Entwicklung der Grandes Chroniques de France den roten Faden, denn sämtliche historiographischen Werke jener Zeit sind im Spannungsfeld zwischen Anlehnung und Ablehnung dieses Leittextes entstanden. Besondere Schwerpunkte sind die Rekonstruktion der Fortsetzung und Drucklegung der Grandes Chroniques, der Übergang von der Handschriften zur Druckkultur, eine Analyse des Druckmarktes und die dort zu beobachtende Verdrängung der Grandes Chroniques durch neue, humanistisch geprägte Werke. Weiter liegt der Fokus auf der Identifizierung jener sozialen Gruppen und Institutionen, welche die angesprochenen Veränderungen gestalteten, sowie auf der Untersuchung des Prozesses der Bildung, Verfestigung und Veränderung von Geschichtsbildern.

Zur Untersuchung der Bildung, Verfestigung und Auflösung von Geschichtsbildern diente der französische Bürgerkrieg der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, der im Nachhinein für viele soziale Gruppen und auch für König Karl VII. kompromittierend war. Im Ringen verschiedener Parteien um die Deutungshoheit über jene dunklen Jahre entwickelten sich in der Mitte des Jahrhunderts drei Geschichtsbilder: das burgundische, das königlich-orléonesische und das königlichklerikale. Alle drei Geschichtsbilder waren Antworten auf die spezifischen Erinnerungsprobleme ihres sozialen Entstehungskontextes und sind durch unterschiedliche Anachronismen geprägt. Während das burgundische Geschichtsbild, das Enguerrand de Monstrelet in den 1440er Jahren konstruierte, für die nachfolgende burgundische Historiographie massgebend blieb, war die Situation im Umfeld des französischen Königs weit weniger klar. Sowohl das radikal gegen Burgund gerichtete königlich-orléonesische als auch das integrative königlich-klerikale Geschichtsbild hatten im herrschaftsnahen Umfeld gewichtige Anhänger. Dass diese Geschichtsbilder in den 1450er Jahren entstanden hängt einerseits damit zusammen, dass die Generation der Zeitzeugen langsam ausstarb und auch das Ende der Herrschaft von Karl VII. abzusehen war. Andererseits kann der Beginn dieser Auseinandersetzung mit der Rückeroberung der Normandie 1450 verbunden werden. Erst jetzt hatte Karl VII. die im Zuge des Bürgerkriegs erlittenen territorialen Verluste rückgängig gemacht und mit der Guyenne sogar zusätzliche Gebiete erobert. Aus diesem Grund konnte erst in den 1450er Jahren der Bürgerkrieg und der damit eng verflochtene Konflikt mit England in einem teleologischen Narrativ des Triumphs – ein Charakteristikum jeder herrschaftsnahen Historiographie – erzählt werden. Im Umfeld von Karl VII. konnten sich vor dessen Tod die adligen Träger des königlich-orléonesischen Geschichtsbildes durchsetzen, was sich in der Fortsetzung der Grandes Chroniques mit der Chronik von Gilles le Bouvier manifestiert.

Als Ort der Produktion von fama und memoria war die herrschaftsnahe Historiographie den personellen und damit verbundenen innenpolitischen Veränderungen im Umfeld des Königs unterworfen. Ein Beispiel hierfür ist die Zäsur, welche die Thronfolge von Ludwig XI. für die französische Historiographie insgesamt und für die Erinnerung an den Bürgerkrieg im Besonderen bedeutete. Ein anderes Beispiel ist die Aktualisierung des königlich-orléonesischen Geschichtsbildes in den 1470er Jahren, welche in der ersten Drucklegung der Grandes Chroniques 1476/77 mündete. Das zweite Beispiel resultierte aber auch aus der damaligen aussenpolitischen Situation: Vor dem Hintergrund des wachsenden Konflikts zwischen Frankreich, Burgund und England diente die Erinnerung an den Bürgerkrieg als Schreckensszenario, vermittelte durch das königlich-orléonesische Geschichtsbild zugleich aber auch die notwendige Strategie zur Bewältigung dieser Gefahr: die bedingungslose innenpolitische Geschlossenheit hinter dem König angesichts einer aussenpolitischen Bedrohung. In den folgenden Jahrzehnten kann in ähnlichen innenund aussenpolitischen Konstellationen auf dem Druckmarkt mehrmals eine Intensivierung der Erinnerung an den Bürgerkrieg festgestellt werden.

Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts genügte die Historiographie des Klosters Saint Denis immer weniger den sich unter dem Einfluss des italienischen Humanismus verändernden formalen und inhaltlichen Ansprüchen. In den letzten Jahren der Herrschaft von Ludwig XI. hatte sich in der königlichen Administration und selbst beim Abt von Saint Denis die Überzeugung durchgesetzt, dass die französische Geschichte neu geschrieben werden müsse. Mit dem Tod von Ludwig 1483 fiel dann der zentrale Faktor weg, der die Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit und damit auch eine Neufassung der französischen Geschichte, die auf diese hingeschrieben worden wäre, verhindert hatte. Danach begannen gleich drei Autoren parallel mit einer Neufassung der französischen Geschichte: Jean de Candida, Robert Gaguin und Paolo Emilio. Daneben entstanden auch Werke, die sich kaum an den neuen humanistischen Idealen orientierten. Die wesentliche Grundlage all dieser Werke blieben aber die Grandes Chroniques, deren Narrativ unterschiedlich stark verändert und verdichtet wurde. Was den französischen Bürgerkrieg betrifft, kam es zu einer Verschiebung: Auf der Basis des königlich-orléonesischen Geschichtsbilds integrierte beispielsweise Nicole Gilles in seiner Chronik das burgundische Geschichtsbild. Dies ist ein anschauliches Beispiel für die Aktualitätsgebundenheit von Geschichtsbildern, denn die Integration zweier konträrer Geschichtsbilder war nur möglich nach der Auflösung der sie trennenden Freund-Feind-Konstellation mit dem Untergang Burgunds. Auch bei den humanistischen Werken von Robert Gaguin und Paolo Emilio ist das in den Grandes Chroniques kanonisierte königlich-orléonesische Geschichtsbild aufgelöst worden. Alle drei Autoren verbindet ein tendenziell adelskritisches und den Ausbau der königlichen Zentralmacht unterstützendes Geschichtsbild, das in den Grundzügen dem in der Mitte des 15. Jahrhunderts entstandenen königlichklerikalen Geschichtsbild entspricht.

Die in der Mitte des 15. Jahrhunderts entstandenen Geschichtsbilder haben eine doppelte Struktur. Vordergründig dominiert die Parteizugehörigkeit, hintergründig sind sie auch sozial strukturiert. Das königlich-orléonesische und das burgundische Geschichtsbild sind auf den französischen Adel zugeschnitten und vermitteln, trotz aller Unterschiede, das Ideal eines militärisch starken und politisch einflussreichen Adels.
Demgegenüber beinhaltet das königlich-klerikale Geschichtsbild die Sicht einer klerikalen und administrativen Elite, die das Königtum trägt und tendenziell adelskritisch eingestellt ist. Wegen dieser sozialen Struktur ist auch der Prozess der Bildung, Verfestigung und Transformation dieser Geschichtsbilder eng mit einem tief greifenden gesellschaftlichen Wandel in dieser Zeit verbunden.

Mit dem Übergang zum Buchdruck fanden historiographische Werke ein zunehmend grösseres Publikum, Werke wurden für diese Öffentlichkeit verfasst und auf dem Druckmarkt lässt sich nachvollziehen, welche Darstellungen besonders gefragt waren. Diese Intensivierung der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist auch ein Resultat und zugleich ein zentraler Faktor des im ausgehenden 15. Jahrhunderts feststellbaren frühen französischen Nationalismus.

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