Am 8. September 1935 hatten die Schweizer Stimmberechtigten über eine Totalrevision der Bundesverfassung zu entscheiden. Die entsprechende Volksinitiative enthielt zwar keinen konkreten Entwurf für die neue Verfassung, in der damaligen Öffentlichkeit herrschte jedoch weitgehend Klarheit darüber, dass den Initianten ein korporatistisch-autoritäres Regime vorschwebte. Zur „nationalen Tatgemeinschaft“, welche das Volksbegehren eingereicht hatte, gehörten nebst verschiedenen Rechtsaussengruppierungen auch die Schweizer Jungkonservativen die Jugendorganisation der Schweizerischen Konservativen Volkspartei (SKVP). Letztere stellte sich im Abstimmungskampf hinter ihre Parteijugend und setzte sich ebenfalls für die Verfassungsrevision ein. An der Urne scheiterte die Revisionsbewegung am Ende deutlich mit landesweit über siebzig Prozent Nein-Stimmen. Immerhin erreichte die Initiative in den katholischen Kantonen eine überdurchschnittliche Zustimmung.
Das Engagement des politischen Katholizismus für einen autoritären Wandel ist aus heutiger Sicht irritierend: Besonders die Rolle der Partei in der Nachkriegszeit als Hauptarchitektin der Konkordanzdemokratie und Kraft des Ausgleichs passt kaum zu einer Allianz mit extremistischen Splittergruppen. Die Arbeit stellt einen Versuch dar, diesen Widerspruch zu erklären. Erstens befasst sie sich mit den Gründen für die katholischen Revisionsbestrebungen: Woher kam die Empfänglichkeit des katholischen Lagers für korporatistisch-autoritäre Visionen? Wie sahen die katholischen Verfassungspläne in der Schweiz konkret aus? Zweitens beleuchtet die Arbeit die innerkatholische Diskussion: Aus welchen Kreisen kam der Widerstand gegen die Totalrevision? Wie argumentierten die katholischen Revisionsgegner?
Viele Revisionsbefürworter beriefen sich auf die katholische Soziallehre: 1891 hatte sich Papst Leo XIII. für einen „dritten Weg“ zwischen Liberalismus und Sozialismus ausgesprochen. Daraus entwickelte sich die Idee eines korporatistischen (berufsständischen) Aufbaus von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, die spätestens 1931 auch vom Vatikan abgesegnet wurde. Während die Schweizer Jungkonservativen ihre Pläne wie die rechtsstehenden „Fronten“ an der „ständischen“ Diktatur in Österreich oder sogar am italienischen Faschismus orientierten, bestand die Mutterpartei auf einem eigenen Verfassungsentwurf: Dieser rüttelte weder an den demokratischen Institutionen noch am liberalen Wirtschaftssystem der Schweiz; die Reformvorschläge der SKVP waren der späteren Sozialpartnerschaft viel ähnlicher als dem klassischen Korporatismus. Einzig die Forderungen nach einer „christlichen Erneuerung“ von Staat und Gesellschaft sorgten für massive Kritik.
Die Untersuchung der innerkatholischen Debatte legt den Schluss nahe, dass es sich bei der Auseinandersetzung um die Totalrevision nicht um eine „Korporatismus-Diskussion“ handelte. Der Korporatismus diente sozusagen als „Markennamen“ für die Überwindung der sozialen Frage und der wirtschaftlichen Krise. So konnten alle Katholiken den Korporatismus befürworten und darunter jeweils etwas anderes verstehen. Der Hauptstreitpunkt in der Revisionsdebatte betraf hingegen die Rolle der SKVP im Schweizer Politsystem: Während sich die Befürworter auf Konfrontationskurs zum Freisinn befanden, strebten die Revisionsgegner allen voran der Innerschweizer Parteikatholizismus und die Amtskirche zumindest im bürgerlichen Lager eine breite Verständigung an.
Die Bedrohung durch den Nationalsozialismus sowie eine Mässigung der Sozialdemokratie in den dreissiger Jahren stärkten innerhalb des politischen Katholizismus die konsensorientierten Kräfte. Die Ausklammerung ihrer religiös-kulturellen Postulate ermöglichte der SKVP eine Annäherung an sozialliberale Kreise und gemässigte Sozialdemokraten. Diese Annäherung bildete eine wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung eines schweizerischen „dritten Weges“ in der Nachkriegszeit in Form der institutionalisierten Sozialpartnerschaft im wirtschaftlichgesellschaftlichen Bereich und der Konkordanzdemokratie im politischen Bereich. Auf diese Weise mauserten sich die Katholisch-Konservativen von einer potentiellen „Anti-System-Partei“ definitiv zu einer wesentlichen Stütze des schweizerischen Staatswesens.
Die Schweizer Katholiken und die „Fronteninitiative“. Die innerkatholische Auseinandersetzung über die Volksinitiative auf Totalrevision der Bundesverfassung in den Jahren 1934 und 1935 - untersucht anhand zeitgenössischer katholischer Pressestimmen und weiterer Quellen
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Marina
Cattaruzza
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2008/2009
Abstract