"Die Belehrung durch viele Beispiele macht euch nämlich die Entscheidung leicht". Untersuchung der Verwendung von paradeigmata in griechischen Gerichtsreden des 4. Jahrhunderts v. Chr.

AutorIn Name
Riccarda
Schmid
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Thomas
Späth
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2016/2017
Abstract
In den grossen Volksgerichtshöfen Athens galt es jeweils für Kläger und Angeklagten, ein dem Fall zugelostes Richtergremium allein mit einer Rede dahingehend zu beeinflussen, dass das Urteil in ihrem Sinne gefällt wurde. Die aus solchen Prozessen überlieferten Gerichtsreden sind also auf kurzfristige Persuasion ausgerichtet, wozu sich die Redner nicht ausschliesslich auf Fakten stützten; vielmehr setzten sie zudem auf Argumente, die die Zuhörer direkt ansprechen sollten, indem Bekanntes aufgegriffen wurde, um so vorhandene Meinungen, Wertvorstellungen und Emotionen zu aktivieren. Gerade um auf dieser Ebene zu argumentieren, griffen die Redner auf Beispiele (griechisch: παραδείγματα / Paradeigmata) als Überzeugungsmittel zurück, deren Untersuchung im Zentrum dieser Masterarbeit steht. Die Quellengrundlage dafür bilden sechs athenische Gerichtsreden aus dem Zeitraum 346 – 330 v. Chr. Im ersten Teil der Arbeit liegt der Fokus auf der Betrachtung der einzelnen verwendeten Beispiele und somit auf Fragen nach deren Inhalt, Form und Rolle in der Gesamtargumentation, wodurch ein grundlegender Überblick über die Art und Weise der Verwendung von Beispielen in den ausgewählten Reden gewonnen werden kann. Im zweiten Teil steht allgemeiner die Betrachtung der Wirkung dieses Einsatzes von Paradeigmata in der forensischen Rhetorik auf Gedächtnisse der athenischen Gesellschaft im V ordergrund. Aufbauend auf theoretischen Konzepten zu sozialen Gedächtnissen gesellschaftlicher Gruppen und zur Analyse des Transfers von Erinnerungen, steht die Frage nach Wirkungsmechanismen der Verwendung von Beispielen auf kollektive Meinungen und Erinnerungen gesellschaftlicher Gruppen im Zentrum. Die Untersuchung zeigt, dass Paradeigmata meist länger ausgeführte Narrative sind, in welchen abhängig vom Gerichtsfall ganz unterschiedliche Inhalte aufgegriffen werden können, denen aber gemein ist, dass die angesprochenen Ereignisse oder Personen als bekannt vorausgesetzt werden – die Rhetoren wählen gezielt Beispielinhalte aus dem Erinnerungshorizont ihrer Zuhörerschaft und heben dann moralische Wertungen des Angesprochenen sowie die daraus für den Fall zu ziehenden Rückschlüsse hervor. Das erklärt, weshalb Beispiele zumeist einen Bezug zu Athen, der athenischen Gesellschaft und der athenischen Geschichte haben. Die Paradeigmata beziehen sich dabei sowohl auf weit zurückliegende, lange tradierte Ereignisse wie auch auf die jüngere und jüngste Vergangenheit oder die Gegenwart. Zudem können auch Vergleiche, allgemeine oder hypothetische Aussagen, Präzedenzfälle und Zitate aus literarischen Werken als Beispiele verwendet werden. Generell gesehen kann an diesen sechs Gerichtsreden keine standardisierte Verwendung spezifischer Inhalte als Paradeigmata festgestellt werden. Beispiele scheinen somit vom jeweiligen Rhetor bewusst für eine spezifischen Rede gewählt, zusammengestellt und aufeinander abgestimmt worden zu sein, sodass sie eine auf Emotionen fokussierende, gedächtniswirksame Ebene der Argumentation in einer Gerichtsrede bilden, welche oft unabhängig von der eigentlichen Beweisführungverläuft. Die Untersuchung der dafür gewählten Beispielinhalte gibt zudem Hinweise dazu, welche gegenwärtigen und vergangenen Personen, Handlungen, Ereignisse oder auch Präzedenzfälle im athenischen Publikum erinnert wurden, wobei die Redner ein Geschichtsund Gegenwartsbild aufgriffen, das deutlich von dem in antiker Geschichtsschreibung überlieferten Bild differiert. Dies erklärt sich dadurch, dass die Betrachtung von Beispielen in griechischer Rhetorik einen Einblick in mündlich tradiertes, in den Gedächtnissen gesellschaftlicher Gruppen erinnertes Wissen um Vergangenes und Gegenwärtiges zulässt und zugleich eine Form der Tradierung und Reproduktion dieser Gedächtnisse aufzeigt. Denn die Reproduktion von Erinnerungen als Argument zur persuasiven Meinungsbeeinflussung zeigt sich als dynamischer Prozess: Neue Inhalte, Emotionen und Wertungen werden mit Bekanntem verknüpft, wodurch in der Verwendung von Erinnerungen als Beispiele ein Prozess der ständigen Neubewertung von Erinnertem anhand der Gegenwart ausgelöst wird. Durch das Angleichen von als Argument eingesetzten Erinnerungen an die Gegenwart werden sie auf eine Weise reproduziert, dass kollektiv Erinnertes mit einem oft moralisch-normativem Geltungsanspruch an Gegenwart und Zukunft stetig neu formuliert wird. Über die Beispiele konstruierten die Redner so eine von ihnen emotional vertretene kollektive Handlungstradition der athenischen Bürger, mit welcher der Gegner als Einzelner gebrochen habe – betont wird das Kollektiv gegenüber dem Einzelnen, wodurch immer aufs Neue diskutiert wird, wie sich das Kollektiv der athenischen Bürger definiert. Die Arbeit über sechs Gerichtsreden aus einem eng gesetzten Zeitraum zeigt, dass Gerichtsprozesse – mit den in den Reden verwendeten Beispielen mobilisierten und zugleich mobilisierenden Erinnerungen – ein entscheidender Ort der Artikulation und damit ständigen Rekonstruktion und Reproduktion eines sozialen Gedächtnisses darstellten, das fundierend für das Zusammengehörigkeitsgefühl des Kollektivs der athenischen Bürgerschaft wirkte.

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