Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhängten die Alliierten eine Wirtschaftsblockade über die Mittelmächte, in deren Folge auch das Deutsche Reich vom Welthandel abgeschnitten wurde. Für Deutschland war dies nicht allein aufgrund seiner Exportorientierung fatal; sondern vor allem auch infolge der Tatsache, dass die deutsche Wirtschaft auf die Einfuhr von Agrarprodukten sowie auf den Import zahlreicher kriegswirtschaftlicher Rohstoffe angewiesen war. Besonders verhängnisvoll war die Abhängigkeit des Landes von südamerikanischem Chilesalpeter – einer Stickstoffverbindung, die nicht nur als wichtigster landwirtschaftlicher Stickstoff-Handelsdünger von Bedeutung war, sondern auch die Grundlage der gesamten damaligen deutschen Explosivstoff-
erzeugung darstellte.
An diesem Umstand knüpfen denn auch die der Lizentiatsarbeit zugrundeliegenden Untersuchungen an. Ein erster Teil der Arbeit ist ganz der Frage nach der Relevanz der Versorgung mit Stickstoffverbindungen in der deutschen Kriegswirtschaft
des Ersten Weltkriegs gewidmet. Dabei kann gezeigt werden, dass es sich beim „Stickstoff“ um eine kriegswichtige militärische Schlüsselressource handelte, deren Bedeutung wesentlich grösser war, als in der Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg allgemein angenommen wird.
Als zentraler Gegenstand wird in der Abhandlung auch die deutsche Versorgung mit Stickstoffverbindungen während des Krieges und in der Vorkriegszeit beleuchtet. Dabei stellte sich heraus, dass die deutsche Wirtschaft unmittelbar vor Kriegsausbruch über 46% ihres Bedarfs an Stickstoffverbindungen aus dem Ausland einführen musste, womit eine starke Importabhängigkeit bestand. Nach Kriegsausbruch verschlechterte sich die Versorgungslage nicht nur aufgrund des Ausfalls ebendieser Einfuhren, sondern auch infolge des unerwartet stark ansteigenden Stickstoffbedarfs der Streitkräfte sowie weiterer kriegsbedingter Faktoren. Der Bezug von Stickstoff-Handelsdünger durch die Landwirtschaft musste daher auf 35% ihres Vorkriegsbedarfs reduziert werden, aber auch das Heer stand wegen der schwindenden Salpeterbestände kurz vor einer militärischen Katastrophe.
Eng mit der Darstellung der Versorgungslage verknüpft wird in der Lizentiatsarbeit auch dargestellt, welche kriegswirtschaftlichen Massnahmen eingeleitet wurden, um dem Mangel an Stickstoffverbindungen entgegenzuwirken, und wie erfolgreich diese Bemühungen waren. Dabei wird aufgezeigt, dass die Massnahmen aufgrund von Verzögerungen, einem stetig wachsenden Munitionsbedarf und einer massiven Überforderung der deutschen Kriegswirtschaft nur zu einer geringfügigen Verbesserung der Versorgungslage führten. So konnte der deutschen Landwirtschaft in keinem Kriegsjahr auch nur die Hälfte ihres tatsächlichen Bedarfs an Stickstoff-Handelsdünger geliefert werden. In diesem Zusammenhang stellt die Lizentiatsarbeit die Korrektheit gewisser, in der neuesten Literatur enthaltener Zahlenangaben in Frage und präsentiert stattdessen neues Datenmaterial, das den realen Gegebenheiten eher gerecht wird. Die Arbeit widerlegt zudem auch die weit verbreiteten Ansicht, dass der Ersatz für den ausgefallenen Chilesalpeter in Deutschland ausschliesslich mittels des sogenannten Haber-Bosch-Verfahrens erfolgt sei.
Mit der Rolle, welche die Schweiz während des Ersten Weltkriegs im Rahmen der deutschen Versorgung mit Stickstoffverbindungen spielte, wird in der Lizentiatsarbeit ein Thema aufgegriffen, dem in der Forschung bisher keine Beachtung geschenkt worden ist. Obwohl die Schweiz im Bereich der stickstoffhaltigen Chemikalien nicht als Transitland zur Umgehung der alliierten Blockade fungierte, wurden dennoch praktisch während der gesamten Kriegsdauer aus der inländischen Produktion stammende Stickstoffverbindungen nach Deutschland ausgeführt. Bedeutsamer als die Lieferung derartiger Enderzeugnisse war für die deutsche Stickstoffwirtschaft jedoch, dass sie teilweise auf Schweizer Ressourcen zurückgreifen konnte. So wird in der Arbeit etwa bewiesen, dass die deutschen Kalkstickstoffwerke in der gesamten Kriegszeit grosse Mengen des in der Herstellung enorm energieintensiven und zur Erzeugung von Kalkstickstoff unabdingbaren Zwischenerzeugnisses Calciumcarbid aus der Schweiz bezogen
haben. Ausserdem errichtete ein Tochterunternehmen einer schweizerischen Firma ein Stickstoffwerk auf deutschem Boden, das auf der Basis von Schweizer Elektrizität, Schweizer Kalk und Schweizer Arbeitskräften erheblich zur deutschen Stickstoffversorgung beitrug. Die Arbeit wird in der Reihe „Berner Forschungen zur Neuesten Allgemeinen und Schweizer Geschichte“ vom Verlag Traugott Bautz publiziert (www.bautz.de).
Die „Stickstofffrage“ in der deutschen Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs und die Rolle der neutralen Schweiz.
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2007/2008
Abstract