Das aus den Ruinen und Trümmern des Zweiten Weltkrieges entstandene neue Deutschland, die Bundesrepublik, hat verschiedene Gründerväter. Was Bundeskanzler Adenauer politisch mit der Gründungsakte und Bundeswirtschaftsminister Erhard wirtschaftlich mit der Währungsreform zur Konstituierung der Bundesrepublik beisteuerten, trug die bundesdeutsche Fussballnationalmannschaft mit ihrem Trainer Sepp Herberger durch ihren Sieg an der Fussballweltmeisterschaf 1954 in der Schweiz auf einer mentalen Ebene bei; ein Ereignis, das von der historischen Forschung bisher unverständlicherweise weitgehend unberücksichtigt blieb.
Die Begeisterung in Deutschland über diesen völlig unerwarteten „Sieg von Bern“ – Deutschland war im Finale gegen Ungarn als grosser Aussenseiter angetreten – war schier grenzenlos. Schon während des Finalspiels waren die Städte wie ausgestorben, Millionen Bundesbürger hörten am Radio Herbert Zimmermanns schon zu Lebzeiten legendär gewordene, beinahe an eine Kriegsberichterstattung erinnernde Reportage oder drängten sich vor die öffentlichen Fernsehgeräte in den Gaststätten und vor die Schaufenster der Fachgeschäfte. Als der Sieg der deutschen Mannschaft feststand, gab es kein Halten mehr. Eine ganze Nation verfiel in einen kollektiven Begeisterungstaumel. Eiligst schrieben führende Politiker wie Bundeskanzler Adenauer oder Bundespräsident Heuss Glückwunschtelegramme nach Bern. Die aber in einem sehr nüchternen Ton abgefassten Glückwünsche offenbarten mehr Adenauers und Heuss’ Desinteresse am „ordinären“ Fussball als die Ausstrahlung von echter Freude und stellten nicht viel mehr als eine lästige P ichterfüllung dar. Dem Finalspiel gar selber beizuwohnen war für die damaligen Politiker schlicht undenkbar, denn neben einer persönlichen Abneigung gegenüber dem „Proletensport“ Fussball galt immer noch die offiziell vertretene Maxime der strikten Trennung von Sport und Politik. Der nationalen Begeisterung konnten sich schliesslich aber auch Deutschlands führende Politiker nicht verschliessen: sie traten an eigens für die Fussballnationalmannschaft organisierten Empfängen und Siegesfeiern als Gastgeber und Redner auf. Nicht wenige Politiker wussten letztlich aus diesem sportlichen Triumph durchaus auch persönlichen Nutzen zu ziehen.
Die sonst den Sport ebenfalls eher gering schätzende Presse dagegen berichtete von Anfang an ausführlich über den Gewinn der Fussballweltmeisterschaft. Selbst die „Frankfurter Allgemeine“ brachte zum ersten Mal überhaupt eine Sportnachricht auf die erste Seite und konnte auch in der weiteren Berichterstattung eine gewisse Bewunderung kaum verbergen. Die alles in allem recht zurückhaltend formulierte Freude der Journalisten war aber mit dem Enthusiasmus in der Bevölkerung nicht zu vergleichen. Die Heimreise der neuen Nationalhelden in einem Sonderzug der Deutschen Bahn geriet zu einem einzigen Triumphzug: Tausende Bundesbürger – und auch Bundesbürgerinnen – empfingen die Weltmeister in ihrer Heimat. Im Nachkriegsdeutschland wurde die Weltmeisterschaft von 1954 emotional höchstens vom Fall der Berliner Mauer 1989 übertroffen.
Schon allein diese Begeisterungsstürme weisen auf die ausserordentliche mentale und psychologische Bedeutung des Weltmeistertitels für die damalige Bevölkerung hin. Nach Jahren der Demütigung entwickelte sich ein neues Selbstbewusstsein, man war auf einmal „wieder wer“. Mit den Fussballern konnte sich eine ganze Nation identifizieren, verkörperten die Spieler doch grundanständige „deutsche Tugenden“ wie Fleiss, Kameradschaft und Bescheidenheit. Die eigentliche Tragweite des „Wunders von Bern“ liegt denn auch mehr in seiner Deutung und Rezeption als in seinem eigentlichen sportlichen Wert.
Unter die ganze Begeisterung mischten sich aber auch nationalistische Töne. Einige Unverbesserliche sangen noch während der Pokalübergabe im Berner Wankdorf Stadion die verbotene erste Strophe des Deutschlandliedes und der Präsident des seit jeher nationalkonservativen Deutschen Fussball-Bundes (DFB) hielt anlässlich einer Siegesfeier in München eine Rede voller nationalsozialistischer Anleihen. In den Medien und bei den Politikern im In- und Ausland setzten heisse Diskussionen und Ängste um einen neu ent ammten deutschen Nationalismus ein, die alsbald die Freude über den Weltmeistertitel in den Hintergrund drängen sollten. Schliesslich sah sich Bundespräsident Heuss genötigt, an der grossen Feier vor über 80.000 Zuschauern im Berliner Olympiastadion ein öffentliches Machtwort an den DFB-Präsidenten zu richten. Doch von wenigen Ausfällen abgesehen erwies sich die deutsche Bevölkerung als weitgehend immun gegen den Virus des Nationalismus, was sich auch in verschiedenen Leserbriefen besorgter Bundesbürger dokumentieren lässt. Die Angst im In- und vor allem im Ausland erwies sich als unbegründet.
Der „Sieg von Bern“ sollte sich als absoluter Glücksfall für die noch junge Bundesrepublik herausstellen. Die gewonnene Weltmeisterschaft war kein mit Verspätung doch noch errungener „Endsieg“, sondern markierte den mentalen Beginn einer neuen Ära, der Bundesrepublik, die erst zwei Jahre später ihre politische Souveränität erlangte. Die zwar schon zuvor real existierende Bundesrepublik war in den Köpfen der meisten Deutschen noch wenig präsent, erst mit dem Fussballweltmeistertitel rückte sie ins allgemeine Bewusstsein. Somit kann mit Recht von einem mentalen Gründungsakt der Bundesrepublik gesprochen werden.