An der Weltuntergangsschwelle. Die öffentliche Karriere des Szenarios vom nuklearen Winter

AutorIn Name
Daniel
Schönmann
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2003/2004
Abstract

Der nukleare Winter ist eine Modellvorstellung, nach der bei einem grossen Atomkrieg durch Nuklearexplosionen und grossflächige Brände gewaltige Mengen Russ- und Staubpartikel in die Troposphäre und Stratosphäre geschleudert werden. Die sich daraus ergebende Verdunkelung der Atmosphäre hätte Temperaturstürze in grossen Teilen der Erde zur Folge und könnte Wochen oder Monate dauern. Für einige Zeit wurde dieses Szenario in der allgemeinen Medienöffentlichkeit diskutiert, mittlerweile hat sich das Thema längst wieder in die Teilöffentlichkeit einzelner Wissenschaftszweige verlagert, seine öffentliche Karriere ist abgeschlossen. Der nukleare Winter eignet sich deshalb gut für die exemplarische Untersuchung der Laufbahn einer wissenschaftlichen Theorie in der öffentlichen und politischen Arena.

 

Im Zuge der Untersuchung des Weges dieses Szenarios von seiner Entwicklung in der Wissenschaft in die allgemeine Medienöffentlichkeit sollte geklärt werden, wann und warum der nukleare Winter in der wissenschaftlichen Debatte erschien. Welche Forschungsrichtungen und Theorien standen ihm Pate? Wie und warum trat die Diskussion des Szenarios in die allgemeine Öffentlichkeit über? Welche Wirkung entfaltete es dort und weshalb verschwand es schliesslich wieder aus ihr? Basis der Analyse bildeten einerseits wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Publikationen zum nuklearen Winter sowie andererseits Artikel in deutschsprachigen Zeitungen und Magazinen. Obwohl sich schon die Entwickler der Atombombe Gedanken über Wirkungen von Nuklearexplosionen auf die Atmosphäre machten und bereits 1956 Überlegungen nachweisbar sind, ob ein grosser Atomkrieg eine neue Eiszeit einleiten könnte, entstand das Szenario des nuklearen Winters erst 1982. Neben für den wissenschaftlichen Prozess typischen Zufällen spielte auch die weltpolitische Lage der späten 1970er und frühen 1980er Jahre eine wesentliche Rolle – durch rüstungstechnologische Fortschritte und verstärkte Spannungen zwischen den Supermächten schien die Gefahr eines Atomkrieges grösser zu werden. Schliesslich waren es auch verbesserte Computertechnologien, welche die Erarbeitung und Überprüfung komplexer Atmosphärenmodelle erst ermöglichten. Der markante Name „Nuclear Winter“ für das Szenario wurde 1983 fast aus Versehen geprägt. Die entscheidenden Elemente zum Szenario des nuklearen Winters steuerten Atmosphärenchemiker und Astronomen bei. Die Eiszeitund die Klimaforschung hatten ebenso wenig wie die militärische Forschung einen ursprünglichen Anteil an der Entdeckung des Szenarios, dagegen beteiligten sich sowohl Klimawissenschaftler als auch militärische Forschungslabors an dessen Verifizierung. Unmittelbar nach der Entwicklung des Szenarios unternahmen einige der daran beteiligten Wissenschaftler grosse Anstrengungen, den nuklearen Winter öffentlich bekannt zu machen. Insbesondere der prominente Astronom Carl Sagan nutzte seinen Bekanntheitsgrad, um ein breites Publikum aufzuklären und seine Forderung nach Abrüstung unter die „Weltuntergangsschwelle“ zu propagieren. Dank einer Reihe von Beiträgen für Massenmedien und von populärwissenschaftlichen Büchern sowie einer gross angelegten Medienkonferenz Ende Oktober 1983 wurde der nukleare Winter zu einem allgemein bekannten, stehenden Begriff. Die von einigen der Beteiligten erhoffte unmittelbare politische Wirkung blieb jedoch insbesondere deshalb aus, weil die Reagan-Administration sämtliche Abrüstungsforderungen ausmanövrierte, indem sie die Gefahr eines nuklearen Winters instrumentalisierte und zum Argument für weitere Rüstungsanstrengungen machte.

 

Eines der führenden deutschsprachigen Medien, Der Spiegel, griff das Thema bereits 1982 auf, noch bevor der Begriff nuklearer Winter geprägt war. Ab Ende 1983 wurde das Thema von vielen deutschsprachigen Medien aufgenommen, es blieb bis 1985 mit wenigen verstreuten, aber oft ausführlichen Artikeln präsent. Die Berichterstattung erfolgte eher unter „Wissenschaft“ als unter „Politik“, eine grosse Debatte über allfällige politische Folgerungen bildeten die Massenmedien nicht ab. Interessanterweise machte sich die Abrüstungs- und Friedensbewegung das Szenario vom nuklearen Winter kaum zu Eigen. So wurde in der schweizerischen Friedenszeitung dem Thema in den 1980er Jahren kein einziger Beitrag gewidmet.

 

Statt, wie von einigen seiner Entdecker erhofft, Ausgangspunkt eines radikalen Umdenkens und einer Umkehrung des Wettrüstens zu werden, blieb der nukleare Winter ein Argument unter vielen. Es gelang den Befürwortern einer weiteren Aufrüstung im Westen leicht, das politische Potenzial des Szenarios zu neutralisieren, indem sie es übernahmen. Die Friedensbewegung, gerade auch im deutschsprachigen Raum, fand dagegen kaum eine Verwendung für den wissenschaftlichen Beweis, dass ein Atomkrieg die gesamte Menschheit gefährden würde. Davon waren die Abrüstungsbefürworter ohnehin schon längst ausgegangen. Dies sind die mutmasslichen Gründe, weshalb die wissenschaftlich einwandfreien Argumente der Naturwissenschaftler, zu deren grossem Unverständnis, im politischen Diskurs scheinbar wirkungslos blieben.

Zugang zur Arbeit

Bibliothek

Akademische Arbeiten werden in der Bibliothek der jeweiligen Universität hinterlegt. Suchen Sie die Arbeit im übergreifenden Katalog der Schweizer Bibliotheken