Der Tyrannenturm oder gefangen im Donjon von Vincennes. Gefängnisalltag am Ende des Ancien Régime

AutorIn Name
Benno
Hägeli
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Peter
Blickle
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2004/2005
Abstract

Die mit zehn Türmen bewehrte, 5 km östlich von Paris gelegene, rechteckige Burganlage Vincennes ist Frankreichs einzige erhaltene Königsresidenz des Mittelalters und zählt zu den sieben grössten französischen Baudenkmälern. Nahezu unversehrt blieb der einstmals als Wohnsitz der ersten Valois-Könige dienende, in der Folge als Gefängnis umfunktionierte, mächtige, gotische Vierturm-Donjon. Gegen Ende des Ancien Régime, als der Hof bereits nach Versailles umgezogen war, verliehen lediglich noch höher gestellte Staatsgefangene wie Crébillon, Diderot, Graf von Mirabeau und Marquis de Sade den alten Burgmauern eine gewisse Bedeutung.

 

In der Studie wird die Endphase dieses 1784 geschlossenen Gefängnisses untersucht. Abläufe und Organisation des Gefängnisbetriebes werden von der Ankunft des Gefangenen und dem Verhör bis zu dessen Entlassung, Versetzung, Flucht oder Tod aufgezeigt. Der Leser gewinnt u. a. Einblicke in die baulichen Verhältnisse (neue Lokalisierung der Kerker- oder „Cachot“-Räume), in die Gefangenen-Kategorien, in die Verhaftungsgründe und die Lebensgeschichte einzelner, mittels „Lettre de cachet“ inhaftierter Insassen. Dem Alltag der Gefangenen und der Kritik am königlichen Gefängnis-Regime wird dabei der grösste Raum beigemessen.

 

Obschon in Vincennes ein starres Reglement wie in den Parlamentsgefängnissen gefehlt hat, wird aufgezeigt, dass es sich nicht um eine tyrannische Willkürherrschaft gehandelt hat. Die verschiedenen Facetten des Alltags werden dabei neu unter dem Aspekt der Hafterleichterung beleuchtet. Dieser Ansatz erwies sich als hilfreich, da für die Alltagsgestaltung entscheidende Lebensbereiche dem Erlass oder dem Entzug von Hafterleichterungen unterlagen. Die Erlaubnis zum Lesen von Büchern, zum Schreiben, zum Weiterleiten von Bittschriften oder Briefen, zum Empfang von Besuchen oder der Teilnahme an der Promenade etc. wurden meist nach und nach zugestanden und waren in der auf Besserung bedachten, paternalistischen Hof-Justiz abhängig von Reuegedanken, Geständnissen und gutem Betragen.

 

Das zweite Hauptkapitel wendet sich den physischen und psychischen Leiden zu. Die Klagen von Vincennes-Insassen über sadistische Folterungen und Ankettungen erwiesen sich als rhetorische Phantasie-Gespinste. Die Cachot-Einweisung gefährlicher, zu Tobsuchtsanfällen neigender Geisteskranker bewertet die Studie als eine vom damaligen Wissensstand her verständliche Notmassnahme der mit der Situation überforderten Entscheidungsträger. Es konnte an mehreren Fällen nachgewiesen werden, dass die verpönten, als barbarisch und tyrannisch gebrandmarkten königlichen Verhaftbriefe gar dazu benutzt wurden, adelige Gesetzesbrecher dem regulären Gericht zu entziehen. Durch die Inhaftierung im königlichen Staatsgefängnis blieben sie von schlimmeren Strafen oder teils gar von drohenden Hinrichtungen verschont. Die wahren Qualen waren trotz Krankheiten, Mangel an Luft, Licht oder Wärme weniger körperlicher Natur, sondern basierten vor allem auf seelischen Schmerzen. Einsamkeit, Langeweile, häusliche Sorgen oder die marternde Ungewissheit über das Entlassungsdatum machten den Lettre-de-cachet-Gefangenen das Leben schwer. Dass man die Festgesetzten über die Dauer ihrer Haft gänzlich im Unklaren liess, wird der Hofjustiz in dieser Studie als zentraler Schwachpunkt angelastet.

 

Der literarisch als „Hölle“, „Grab“ und „Ort des Horrors“ verschrieene Donjon zu Vincennes war weit besser als sein Ruf. Romantische Gefängnisliteratur, Pamphlete und auf Dramatik zielende, von revolutionärem Gedankengut getragene Gefängnis-Memoiren ehemaliger Insassen wie Latude, Le Prévôt de Beaumont oder Mirabeau müssen mit grösster Vorsicht gelesen werden. Widersprüche treten teils schon innerhalb dieser absatzorientierten Schriften offen zu Tage. Ein gänzlich anderes, wesentlich differenzierteres und von der Folter- und Tyrannei-Rhetorik losgelöstes Alltagsbild gewinnt man durch die Auswertung der einst der Öffentlichkeit verborgenen Bittschriften an den Donjon-Gouverneur, den Pariser Polizeipräfekten oder den König, der unzähligen Briefe an Familienangehörige und Freunde, der Diskurse, Anweisungen und Anfragen zwischen Polizeipräfekt, Gouverneur und Minister, der Polizeirapporte über Hausdurchsuchungen und Verhaftungen sowie der Verhörprotokolle. Trotz gewisser Unterschiede bei der Erteilung von Haftmilderungen darf man allgemein im Falle des Staatsgefängnisses von Vincennes wie Ernest Lemarchand von einem „elegant aristokratischen Gefängnis“ sprechen. Die wahren „höllischen“ Abgründe sind eher im Charakter einzelner Gefangener, wie dem Marquis de Sade, zu finden. Das reale Geschehen hinter den undurchschaubaren Mauern blieb somit der von falschen Vorstellungen, Gerüchten und Hunger getriebenen revolutionären „Volksmasse“ verborgen.

 

Zugang zur Arbeit

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