Das „Unvorstellbare“. Die Verfolgung niederländischer Juden 1940-1945

AutorIn Name
Remy
Limpach
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Stig
Förster
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2006/2007
Abstract

Das tragische Schicksal der Anne Frank hat Millionen von Menschen auf der ganzen Welt berührt. Dennoch darf bezweifelt werden, dass den Lesern durch die Lektüre des Tagebuchs der Anne Frank die spezifisch niederländischen Umstände der Tragödie des Holocaust bewusst werden. Dabei lohnt sich vor allem wegen der höchsten jüdischen Deportationsquote in Westeuropa eine nähere Betrachtung dieser niederländischen Ausprägung der Judenvernichtung durchaus. Mehr als 110’000 der insgesamt 140’000 holländischen Juden wurden von der deutschen Besatzungsmacht deportiert; aus den Lagern in Osteuropa zurückgekehrt sind lediglich 6’000 Verschleppte. Von den 140’000 niederländischen Juden starben beinahe drei Viertel in den Konzentrationslagern in Deutschland und Polen, womit die Niederlande die mit Abstand höchste Deportationsquote in ganz Westeuropa aufweist. Im Vergleich dazu lag die Verschleppungsquote in Belgien und Norwegen bei 40%, in Frankreich bei 25% und in Italien bei 20%.

 

Die prozentual erschreckend hohe Zahl der deportierten Juden in den Niederlanden (rund 75%) erreicht osteuropäische Ausmasse und erzeugt bis heute heftige Diskussionen. Für die meisten Interessierten war und ist es „unvorstellbar“, wie die Niederlande, ein für liberale und tolerante Traditionen bekanntes Land, eine derart hohe Deportationsquote erreichen konnten. Die Lizentiatsarbeit geht der zentralen Frage nach, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte und analysiert zudem die besonderen Bedingungen, die in den Niederlanden eine derart weit gehende Deportation der dortigen Juden erlaubten.

 

Die Hauptakteure beim „Unvorstellbaren“ sind Deutsche, Juden und Niederländer. Zur Untersuchung der zentralen Fragestellung gliedert die Studie die Akteure in Täter, Opfer und Zuschauer. Anhand dieser Struktur wird die Rolle der Täter (deutsche Besatzungsorgane, Beamte, Polizisten und niederländische Nationalsozialisten), der Opfer (die Juden) und der Zuschauer (niederländische Bevölkerung und Institutionen) bei der Judendeportation untersucht. Um die besonderen niederländischen Umstände der Judenverfolgung noch klarer zu Tage treten zu lassen, beinhaltet die Lizentiatsarbeit zudem einen internationalen Vergleich.

 

Es befanden sich selbst unter den Juden – neben den unzähligen Opfern – vereinzelte Täter, sei es in Form von wenigen Spitzeln oder sei es in Gestalt der Präsidenten des umstrittenen Jüdischen Rats. Auch einige wenige deutsche Hilfeleistungen für Juden haben stattgefunden. Nicht alle Juden waren demnach Opfer und auch nicht alle Deutsche Täter, grossmehrheitlich jedoch schon. Die Einteilung der Niederländer in die Kategorie der „Zuschauer“ ist dadurch begründet, dass die niederländische Bevölkerungsmehrheit der Judenverfolgung insgesamt weitgehend passiv gegenüberstand. Die Rolle der Niederländer, der „Zuschauer“, birgt die grössten Handlungsspektren, da sie zwischen den Extrempolen Widerstand und Kollaboration teilweise sehr gegensätzliche Positionen einnahmen und diese teilweise wechselten.

 

Eine einzelne Antwort auf die Frage nach den Gründen für die höchste Deportationsquote der Niederlande im westeuropäischen Vergleich zu geben ist unmöglich. Klar ist nur, dass eine Reihe spezifisch niederländischer Umstände die deutschen Besatzer bei ihrem Ziel der Judenverschleppung derart „erfolgreich“ sein liessen. Die Studie listet im Fazit insgesamt 20 für die Juden negative Faktoren auf. Dabei war kein einzelner dieser 20 Faktoren alleine entscheidend, sondern vielmehr die Summe dieser sich negativ auf die niederländischen Juden auswirkenden Zusammenhänge. Alle 20 negativen Umstände standen in einer bestimmten Relation, doch ihr Zusammenwirken genau zu entschlüsseln oder zu bewerten ist nicht möglich. Dennoch können die wichtigsten Faktoren benannt werden: Die Macht und die Effizienz des zivilen deutschen Besatzungsregimes und seiner Organe, die unterwürfige und kooperative Einstellung der niederländischen Verwaltung und der Polizei, das Verantwortungsgefühl und Pflichtbewusstsein der Juden sowie ihr falscher Sinn für Sicherheit (basierend auf ihrer Assimilierung). Ferner war der Grad an Widerstand gegen die deutsche Besatzung und gegen die Judenverfolgung gering, die geistigen und politischen Eliten der Niederlande gingen nicht mit Hilfe oder Unterstützung der Juden voran und auch die Exilregierung verhielt sich diesbezüglich still. Und die Bevölkerung sah – von wenigen Ausnahmen abgesehen – der Verfolgung mehrheitlich passiv zu. Diese Gegebenheiten bilden die wichtigsten Gründe für das Ausmass der Katastrophe. Kurz: Ein positiver Faktor für die Juden fehlte.

 

Das Fehlen eines positiven Faktors für die niederländischen Juden wird auch aus internationaler Perspektive ersichtlich. Norwegen beheimatete im Vergleich zu den Niederlanden zu wenig Juden, um eine grössere Aufmerksamkeit von den Verfolgern zu rechtfertigen. In Dänemark konnten die Besatzungsbehörden systembedingt erst sehr spät gegen die Juden vorgehen, die dann in einer kollektiven Rettungsaktion nach Schweden fliehen konnten. In Belgien und Frankreich, den Ländern also, die am ehesten mit den Niederlanden verglichen werden können, fanden sich ebenfalls mehr „günstige“ Faktoren für die Juden: Der Widerstand war bedeutender, die Topographie geeigneter und es boten sich wesentlich mehr Fluchtmöglichkeiten. Doch vor allem gingen die installierten Militärverwaltungen in Belgien und Frankreich bei der Umsetzung von antijüdischen Massnahmen nicht derart effizient und motiviert vor wie die in den Niederlanden herrschende deutsche Zivilverwaltung. In den belgischen und französischen Besatzungsoder Kollaborationsregimes fehlte auch der vergleichsweise starke Einfluss von SS und NSDAP. Zudem waren die Transporte von den Niederlanden in die Vernichtungslager nie unterbrochen, wie dies in Belgien und Frankreich monatelang der Fall war. Ferner erreichten die belgischen und französischen Bürokratien keinen derart hohen Organisationsgrad wie die niederländische Verwaltung. Sie waren somit für das Umsetzen der antijüdischen Massnahmen aus Sicht der Täter weniger „hilfreich“. Insgesamt genoss die Judenverfolgung in Belgien und Frankreich bei den Verfolgern keine derart hohe Priorität wie diejenige in den Niederlanden.

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