Beschreibung des Suboptimalen. Merkmale des Redens über Patienten der psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur in den 1920er und 1950er Jahren

AutorIn Name
Carmen
Aliesch
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
PD Dr.
Patrick
Kury
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2013/2014
Abstract
Die psychiatrische Klinik Waldhaus in Chur fand vor allem in Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Geschichte der Jenischen Beachtung. Dabei wurden die erbbiologischen Forschungsarbeiten des ersten Klinikdirektors Johann Joseph Jörger untersucht. Darin zeigte sich eine Verbindung von zeitgenössischer psychiatrischer Sprach- und Wahrnehmungspraxis mit traditio- nellen gesellschaftlichen V orurteilen. Die Ausweitung oder Ausdifferenzierung auf andere Bereiche der Gesellschaft, insbesondere Fürsorge und Justiz, gilt als ein typisches Merkmal der Psychiatrie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Fürsorge wandte sich zu Beginn des Jahrhunderts zunehmend der Disziplinierung von abweichendem Verhalten zu. Die Psychiater wurden zu Experten, welche einen Massstab für dieses Verhalten definieren mussten. Dieser Richtungswechsel konnte in Graubünden erst nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht werden, da das Fürsorgewesen zuvor von milizhaften Strukturen geprägt war. So kam es in den 1920er Jahren zu relativ wenig Austausch mit der Psychiatrie. Infolgedessen nahm die Anzahl der psychiatrischen Gutachten im „Waldhaus“ erst nach dem Zweiten Weltkrieg massiv zu. Dieser Zuwachs lässt sich institutionell mit den Anforderungen der Justiz in Verbindung bringen. Während die Psychiatrie ab 1910 eine Trennung von geisteskranken und kriminellen Patienten befürwortete, um sich auf therapeutische Aufgaben zu konzentrieren, ergab sich durch das Strafgesetzbuch von 1942 eine vermehrte Zusammenarbeit zwischen Justiz und Psychiatrie, weil vermindert zurechnungsfähige Delinquenten und Delinquentinnen in psychiatrischen Kliniken versorgt wer- den mussten. Während die 1920er Jahre den Beginn dieser Ausdifferenzierung und eine Phase der Abkehr repräsentieren, wurde dieser Prozess in den 1950er Jahren als weitgehend abgeschlossen betrachtet. Ab 1951 war Gottlob Pflugfelder Direktor im „Waldhaus“. Auch er betonte in seinen Schriften die gesellschaftliche Aufgabe der Psychiatrie. Die Masterarbeit vergleicht deshalb die beiden Zeiträume, behandelt aber nicht nur die Sprachpraxis in den Publikationen der beiden Di- rektoren, sondern vor allem jene in den Kranken- geschichten der Klinik der 1920er und 1950er Jahre. Daraus ergibt sich eine zweiteilige Fragestellung, die sich zunächst mit den Merkmalen des Redens in den Patientenbeschreibungen befasst. Die Studie fokussiert darauf, bestimmte Kategorien beziehungsweise Begriffskomplexe zu definieren, welche in einem Zeitraum beson- ders bedeutungsvoll für die Patientenbeschreibung und damit „diskurstragend“ waren. Diskurstragende Themenkomplexe der 1920er Jahren wie Arbeit, Einsicht sowie Ruhe und Gehorsam zeichneten sich durch eine starke Fokussierung auf Beobachtungen innerhalb der Klinik aus. Demgegenüber spielten in den Krankenakten der 1950er Jahre Kategorien wie Heredität, Milieu, Persönlichkeitsmerkmale und Intelligenz eine zentrale Rolle, welche vorwiegend die Lebensgeschichte der Patienten beschrieben. Der zweite Teil der Fragestellung befasst sich mit der Interaktion dieser Merkmale mit der Ausdifferenzierung der Psychiatrie im 20. Jahrhundert, wie sie sich im psychiatrischen Diskurs der beiden Zeiträume manifestiert. Dieser Diskurs wird einerseits aus den Aussagen der beiden Klinikdirektoren sowie weiteren Ärzten des „Waldhauses“ und andererseits aus Arbeiten der Psychiatriegeschichte abgeleitet. Die Masterarbeit zeigt auf, dass die Verbindung von psychiatrischer Sprachpraxis mit Diskursen anderer Disziplinen in den 1920er Jahren nur teilweise beobachtet werden konnte, während die Vermischung in den 1950er Jahren bereits institutionalisiert worden war. In den betrachteten Krankengeschichten der 1920er Jahre zeigte sich in praktisch jeder Kategorie ein Unterschied, wenn ein Patient von der Justiz zur psychiatrischen Begutachtung eingewiesen wurde. Dort wurde der Lebenslauf viel ausführlicher abgehandelt, wodurch die Kategorien Heredität, Milieu und Persönlichkeitsmerkmale ähnlich bedeutungsvoll wie in den 1950er Jahren wurden. Die Korrelation zwischen der Praxis des Begutachtens und dem Reden über die Vorgeschichte verdeutlicht, dass die Interaktion mit der Justiz den Horizont des Denk- und Sagbaren erweitert hat. Wie ein Vergleich von vier psychiatrischen Gutachten mit den entsprechenden Krankengeschichten veranschaulicht, wurde für die Erstellung des Gutachtens auf die Sprachpraxis der Justiz zurückgegriffen, wodurch dieselbe Sprachpraxis auch in die Krankengeschichte einfloss. In den 1950er Jahren lassen sich demgegenüber keine Unterschiede zwischen begutachteten und anders eingewiesenen Patienten mehr feststellen.

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