Bahnen unter Strom! Die Elektrifizierung der SBB in histiorischer Perspektive

AutorIn Name
Jonas
Steinmann
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2002/2003
Abstract

Der Eisenbahnbau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglichte der Schweiz den Zugriff auf die Kohlenvorkommen Deutschlands, Frankreichs und Belgiens. Ein solares Energiesystem wurde durch ein fossiles ergänzt. Die engen Nachhaltigkeitskriterien, denen das Handeln der Menschen bis anhin unterlag, konnten mit dem Anzapfen fossiler Energiereserven durchbrochen werden.

 

Bis zum Ersten Weltkrieg steigerte sich der Primärenergieverbrauch drastisch. Die Schweiz befand sich in einer akzentuierten Auslandabhängigkeit. Der Kohlenimport erschien aber wenig problematisch.

 

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelangen der Elektroindustrie spektakuläre Fortschritte. Der hochgespannte Wechselstrom machte den Transport elektrischer Energie möglich. Dies eröffnete die Perspektive für elektrische Eisenbahnen, die eine ähnliche Leistungsfähigkeit wie die starken Dampflokomotiven aufwiesen. In Deutschland wurden um die Jahrhundertwende Hochgeschwindigkeitsversuche getätigt, während in Norditalien mehrere stark belastete Eisenbahnlinien elektrisch ausgerüstet wurden. Die neu gegründeten SBB blieben aber gegenüber der neuen Traktionsweise skeptisch: Der Kohlennachschub war billig und sicher, die Elektrifizierung jedoch ein teures Experiment mit einer noch kaum ausgereiften Technologie.

 

Die Elektrizitätslobby, die sich zur Zeit grösserer Absatzschwierigkeiten in der Industrie um staatliche Eingriffe zugunsten einer Gesamtelektrifizierung des SBB-Netzes bemühte, erreichte nicht mehr als die Gründung eines Vereins, der „Studienkommission für elektrischen Bahnbetrieb“, an dem sich das Post- und Eisenbahndepartement sowie die SBB mitbeteiligen mussten. Der Verein konnte keine Versuche durchführen. In ihm waren aber die namhaften Experten versammelt. Im Rahmen der Studienkommission wurden die Leitlinien späterer Elektrifizierungen ausgearbeitet. Die Versuche, die elektrische Bahnen zur Serienreife im schweren Betrieb brachten, fanden auf privater Basis statt.

 

1913 wurde die Neubaustrecke durch den Lötschberg elektrisch eröffnet. Es fand ein System Anwendung, dass grösstenteils von der Maschinenfabrik Oerlikon entwickelt wurde. Deren Direktor, Emil Huber-Stockar, war der stärkste Verfechter des Wechselstromsystems. Die Einführung dieses Systems am Lötschberg war möglich, weil im Kanton Bern grosse Überkapazitäten an elektrischer Energie bestanden. Die bernische Elektrizitätslobby suchte verzweifelt nach einem verlässlichen Grosskunden. Die Elektrifizierung der Lötschbergbahn bewies die Tauglichkeit des Systems der Oerlikoner Maschinenschmiede.

 

Die SBB entschieden sich im selben Jahr 1913 für die elektrische Ausrüstung einer besonders geeigneten Pionierstrecke: der Strecke der ehemaligen Gotthardbahn. Der ehemalige Direktor der MFO, Emil Huber-Stockar, wurde zum Oberingenieur für elektrischen Bahnbetrieb berufen. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges unterbrach die Arbeiten.

 

Der Erste Weltkrieg brachte das Energiesystem der Schweiz zum Zusammenbruch. Die Kohlenpreise vervielfachten sich. Die Jahre 1917–1922 waren durch eine Energiekrise geprägt. Das Transportsystem war in besonderem Masse von der Kohlenkrise betroffen. Die Bahnen mussten ihren Betrieb auf ein absolutes Minimum einschränken und erhöhten die Fracht- und Fahrtaxen bis auf ein äusserstes Niveau. In diesem Rahmen schritt die Bahnverwaltung 1918 zur Veröffentlichung eines Gesamtelektrifizierungsprogramms. Die Generaldirektion lehnte dies zwar aus praktischen Gründen ab, der Verwaltungsrat drängte aber aufgrund politischer Erwägungen auf die Ankündigung der Elektrifizierung: Die SBB mussten zeigen, dass sie proaktiv etwas gegen die Krise unternahmen. Man entschloss sich für das System der Maschinenfabrik Oerlikon und den Bau bahneigener Kraftwerke.

 

Während der Arbeitslosigkeit der Jahre 1922 und 1923 wurde das Elektrifizierungsprogramm von 1918 durch ein neues, ehrgeizigeres ersetzt. Der Bund stützte das Programm, das der Arbeitsbeschaffung diente, mit einer Subvention. Obwohl die SBB-Spitze die Rentabilität der Elektrifizierung dogmatisch verteidigte, ist diese in Frage zu stellen. Die hohe Verschuldung der SBB, die durch die Elektrifizierung mitbedingt wurde, machte 1944 eine Sanierung nötig. Als die Kohlenpreise wieder sanken, brach beispielsweise Österreich seine Elektrifizierungsprogramme ab. Die SBB und die Privatbahnen elektrifizierten aber weiterhin, so dass zu Beginn des Zweiten Weltkrieges über 90% des Verkehrs elektrisch befördert werden konnte.

 

Die Erklärung für das atypische Verhalten der Schweiz liegt in der Energiekrise 1917–1922, welche, kumuliert mit anderen Aspekten, zu einer sozialen Misere führte, die den Hintergrund für die grösste Staatskrise der modernen Eidgenossenschaft, den Landesstreik 1918, bildete. Solche Zustände sollten für die Zukunft ausgeschlossen werden können. Die Elektrifizierung der SBB war Teil einer Autarkiepolitik, welche durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges in ihrer Richtigkeit bestätigt wurden und die Politik der Schweiz – von der Landwirtschaft bis zur Kernenergie – auch weiterhin nachhaltig beeinflusste.

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