Auswirkungen erinnerungskultureller Institutionen auf die Vergangenheitsaufarbeitung der lokalen Bevölkerung – Fallbeispiel Gailingen

AutorIn Name
Marvin
Rodriguez
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Dr. habil.
Carmen
Scheide
Institution
Historisches Seminar
Ort
Bern
Jahr
2023/2024
Abstract

Die Geschichte der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung seit 1945 ist geprägt von inneren Widersprüchen, hartnäckigem Beharrungsvermögen und unerwarteten Durchbrüchen. Erst die Etablierung erinnerungskultureller Institutionen in den 1980er und 1990er Jahren, die auf Initiative von neu gegründeten historischen Vereinen gegründet wurden, hat den Weg für eine Erinnerungskultur geebnet, die sich heute darin äussert, dass die kritisch-reflexive Erinnerung an das NS-Regime mittlerweile zum festen Bestandteil des deutschen Selbstverständnisses gehört. Welchen Einfluss die institutionalisierte Erinnerungskultur auf das Geschichtsbewusstsein der lokalen Bevölkerung hat, ist jedoch ein Aspekt, der in der bisherigen Forschung zur deutschen Vergangenheitsaufarbeitung nur untergeordnet berücksichtigt worden ist.

 

Die Arbeit geht der Frage nach, ob und inwiefern sich die Aktivitäten erinnerungskultureller Institutionen als Akteure der Erinnerungskultur auf die Sensibilisierung der lokalen Bevölkerung für eine kritische Auseinandersetzung mit der Zeit des NS-Regimes auswirken, und ob sie somit einen Beitrag zur Vergangenheitsaufarbeitung leisten. Der Fokus liegt dabei auf einem klar lokal definierten Kontext: der kleinen an der Grenze zur Schweiz gelegenen Gemeinde Gailingen am Hochrhein. Gailingen eignet sich gut als Beispiel dafür: So wurde die jüdische Gemeinde des Dorfes mit ihrer 300-jährigen Geschichte durch die Deportation von 200 Gailinger Juden in das Konzentrationslager in Gurs in Frankreich im Jahre 1940 Opfer der Verfolgung durch den NS-Staat und fand dadurch ihr abruptes Ende. Wie man sich mit der damaligen Zeit nach dem Ende des Krieges auseinandersetzte und versuchte, an sie zu erinnern, zeigen erinnerungskulturelle Institutionen wie zwei Vereine und ein Museum, welche sich mit der jüdischen Geschichte des Dorfes befassen.

 

Mittels der Analyse und dem Vergleich von acht exemplarischen Oral-History Interviews wurde untersucht, inwiefern intergenerationelle Divergenzen in Bezug auf das Wissen zur Geschichte des jüdischen Gailingens bestehen, ob es Unterschiede in der Vergangenheitsdeutung gibt und welche Rolle dem jüdischen Museum Gailingen dabei zukommt. Anhand der Auswertung von Archivquellen aus den Gemeindeund den Vereinsarchiven wurde zusätzlich untersucht, ob sich ein Unterschied zur Vergangenheitsaufarbeitung auf Bundesebene abzeichnen lässt.

 

Als Ergebnis lässt sich zunächst festhalten, dass Gailingen zwar nicht als Vorreiter der Vergangenheitsaufarbeitung in Deutschland gesehen werden kann, insgesamt jedoch durchaus die bundesdeutsche Entwicklung auf Ebene der Gemeinden widerspiegelt. Die Interviews haben sodann gezeigt, dass sich vor allem bei der jüngeren Generation, im Unterschied zu den Angehörigen der älteren Generation, die als Zeitzeug:innen der Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs über das meiste Wissen zur Dorfgeschichte verfügen, ein Prozess der kritischen Aufarbeitung der NS-Zeit und des Holocaust ausmachen lässt. Wie gross der Anteil der erinnerungskulturellen Institutionen an dieser Entwicklung ist, konnte anhand der Interviews nicht genau herausgefunden werden. Deutlich geht hingegen hervor, dass die Befragten aller Generationen das Museum kennen und es als integralen Bestandteil ihrer Gemeinde betrachten. Mit seinen Aktivitäten trägt es somit dazu bei, die Erinnerung an den Holocaust lokal zu verankern. Bewirken könnte es in Zukunft vielleicht auch, vermehrt das Interesse sowohl der Wissenschaft als auch einer breiteren Bevölkerung für eine Betrachtung der Geschichte des NS-Regimes aus einer lokalen Perspektive wie derjenigen Gailingens zu wecken.

Zugang zur Arbeit

Bibliothek

Akademische Arbeiten werden in der Bibliothek der jeweiligen Universität hinterlegt. Suchen Sie die Arbeit im übergreifenden Katalog der Schweizer Bibliotheken