Aus den Reihen der fachlich und charakterlich besonders qualifizierten Ärzte". Die Suva-Ärzte als Spezialisten für Humanfluorose in der Schweiz im 20. Jahrhundert

AutorIn Name
Emmanuel
Neuhaus
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2018/2019
Abstract
Die Humanfluorose ist eine Krankheit, die vor allem bei ArbeiterInnen der Aluminiumindustrie auftrat, wo die Produktionsweise staub- und gasförmige Fluorverbindungen entweichen liess, die die ArbeiterInnen in bedenklichen Mengen aufnahmen. Über die Jahre konnte dies zu einer starken Erhöhung der Knochenmasse führen, die aufgrund der schmerzhaften Bewegungseinschränkungen schlimmstenfalls eine vollständige Invalidität zur Folge hatte. Fast ein Drittel der weltweit bis Mitte der 1970er Jahre wissenschaftlich dokumentierten Fluorosefälle bei AluminiumarbeiterInnen entfiel auf den Kanton Wallis, wo sich alle drei auf Schweizer Boden betriebenen Aluminiumfabriken befanden. Weil das freigesetzte Fluor auch aus den Fabriken entwich und Schäden an der Vegetation sowie Fluorose bei Wild- und Nutztieren verursachte, kam ferner die Befürchtung auf, die Bevölkerung in der Umgebung der Aluminiumwerke könnte ebenfalls gefährdet sein. Diese Ängste bestanden nicht nur im Wallis, sondern auch im Aargauer Fricktal, wo sich Schäden durch ein in Deutschland gelegenes Aluminiumwerk bemerkbar machten. Da die Behandlung der Berufskrankheitsfälle seit deren Gründung 1918 der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) oblag, handelt es sich bei ihr resp. den bei ihr angestellten Ärzten um die hier zentralen Akteure. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von der Gründung der Suva bis in die 1980er Jahre, als aufgrund neuer Produktionsanlagen keine Fluorosefälle mehr auftraten und die Forschung zur Fluorose in der Schweiz weitgehend endete. Die Fragestellung der Arbeit ist zweifach. Zum einen wird untersucht, wie die Suva-Ärzte mit ihrer Doppelrolle als Ärzte und Versicherungsangestellte umgingen und mit welchem Selbstbild dies verbunden war. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Suva-Ärzte aus mehreren Gründen in einem Spannungsverhältnis zur freien Ärzteschaft standen. Zum anderen besteht das Forschungsinteresse darin, herauszufinden, wer die zahlreichen wissenschaftlichen Studien zur Humanfluorose verfasste und in Auftrag gab, wie die Forschungsergebnisse rezipiert wurden und, daraus folgend, über welchen Status die ExpertInnen im Geflecht der AkteurInnen verfügten. Es wird angenommen, dass die Suva-Ärzte die Forschungstätigkeit steuerten, die Forschung so gut wie ausschliesslich in Kollaboration mit der Suva erfolgte und sich um versicherungsrelevante Fragen drehte. Als methodisch-theoretische Grundlage wurde gestützt auf Reinhard Sieders praxeologische Vorschläge ein akteurszentrierter Zugang gewählt. Neben Fachpublikationen stammen die verwendeten Quellen grösstenteils aus dem Schweizerischen Bundesarchiv, dem Schweizerischen Wirtschaftsarchiv und dem Walliser Staatsarchiv. Nach den beiden einleitenden Kapiteln widmet sich das dritte Kapitel dem ärztlichen Standesbewusstsein und Berufsethos, die sich als äusserst wirkmächtig und langlebig herausstellten, wie anhand des Beispiels der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften aufgezeigt wird. Darauf aufbauend wird im vierten Kapitel das Augenmerk auf die Suva-Ärzte und die Arbeitsmedizin in der Schweiz gelegt, wobei das Selbstbild der Suva-Ärzte und ihre Kommunikationsstrategie gegenüber dem Ärzteverband FMH den Schwerpunkt bilden. Das fünfte Kapitel beleuchtet schliesslich die ExpertInnen und ihre Expertise. Der Fokus liegt hier auf der von der Suva orchestrierten Forschungstätigkeit. Es konnte aufgezeigt werden, dass die Beilegung eines Konflikts zwischen der Suva und dem Ärzteverband Mitte der 1930er Jahre nicht alleine darauf fusste, dass innerhalb der Suva «ärztefreundlichere» Personen Leitungsfunktionen übernahmen, wie frühere Forschungen vermuteten. Vielmehr beruhte dies auf einer gewandelten Kommunikationsstrategie. Die Suva-Ärzte beriefen sich explizit auf das ärztliche Berufsethos und inszenierten sich als geradezu prototypische Ärzte. Ausserdem zeigten sie sich mit den frei praktizierenden ÄrztInnen solidarisch, indem sie gemeinsame Interessen betonten und dafür sorgten, dass die Suva ihren finanziellen Spielraum zugunsten der ÄrztInnen ausschöpfte. Sich selber sahen die Suva-Ärzte u. a. aufgrund ihres exklusiven medizinischen Zugriffs auf die erkrankten Versicherten als die Spezialisten in Sachen Berufskrankheiten und verteidigten ihre Position gegenüber anderen AkteurInnen. Da wesentliche Impulse in der Arbeitsmedizin in der Schweiz von der Romandie ausgingen, setzte die Suva in der Forschung zur Humanfluorose auf eine Zusammenarbeit mit der Universität Genf. Diese Kooperation erlaubte es, Untersuchungen von bedeutendem Umfang durchzuführen, ohne dass die Suva-Ärzte die Kontrolle über die Forschungstätigkeit aus der Hand geben mussten. Die Genfer MedizinerInnen profitierten wiederum vom exklusiven Zugang zu den Patienten der Suva und konnten sich internationales Renommee auf dem Gebiet der Fluorforschung erarbeiten. Die Forschung der Genfer MedizinerInnen ging aber über versicherungsrelevante Fragen hinaus, weshalb es die zweite These der Arbeit, wonach die Suva-Ärzte diese Forschungen steuerten, teilweise zu revidieren galt.
Library ID
alma991042932069705501

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