Thema der Lizentiatsarbeit sind so genannte „administrative Versorgungen“. Eine administrative Versorgung war eine besondere Form der Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt, die in der Schweiz seit der Mitte des 19. Jahrhunderts praktiziert wurde. Zu Beginn der 1980er Jahre wurden ihre gesetzlichen Grundlagen mit der Einführung der Bestimmungen über die Fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE) im Vormundschaftsrecht ausser Kraft gesetzt.
Betroffen von einer administrativen Versorgung waren „Liederliche“, „Arbeitsscheue“, „Trunksüchtige“ oder „Müssiggänger“, die der öffentlichen Fürsorge zur Last fielen – oder zur Last zu fallen drohten – oder von denen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung befürchtet wurde.
Eine administrative Versorgung war eine ausserstrafrechtliche Form der Anstaltseinweisung. Die Einweisungen erfolgten nicht auf einen richterlichen Beschluss hin, sondern wurden in den meisten Kantonen, so auch im Kanton Bern, vom Regierungsrat verfügt – einer Verwaltungsbehörde, daher auch die (zeitgenössische) Bezeichnung „administrative Versorgung“. Das Rechtsinstitut der administrativen Versorgung wurde im Kanton Bern im Jahr 1884 eingeführt. In den Jahren 1912 und 1965 wurden die Bestimmungen revidiert.
Da sich die Bestimmungen über die administrative Freiheitsentziehung in vielen Kantonen nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK vereinbaren liessen – in vielen Kantonen, so auch im Kanton Bern, gab es keine Möglichkeit, gegen einen regierungsrätlichen Einweisungsentscheid zu rekurrieren und die Angelegenheit von einem Gericht als einer unabhängigen Instanz behandeln zu lassen – musste die Schweiz die Konvention 1974 unter Vorbehalt ratifizieren.
In der Arbeit werden die rechtlichen Grundlagen der administrativen Versorgung im Kanton Bern seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert dargestellt, es wird auf die quantitative Entwicklung im 20. Jahrhundert eingegangen und es werden die Grundlinien im administrativen Versorgungsdiskurs in der Mitte des 20. Jahrhunderts ausgemacht. Wie argumentierten Befürworter und Gegner? Mit welchen Zweckbestimmungen wurde das Rechtsmittel der administrativen Versorgung unterlegt? Schwerpunkt der Untersuchung bilden die 1950er Jahre. Des Weiteren werden zwei Einzelfallanalysen gemacht und zwei Versorgungsfälle aus den 1950er Jahren detailliert untersucht.
Im Wesentlichen wird die Arbeit von zwei Fragestellungen geleitet: Einmal geht es um Deutungen von Devianz und Normalität; weiter um die Handlungsspielräume der einzelnen Akteurinnen und Akteure.
Als Quellen dienten Einweisungsakten der kantonalen Fürsorgedirektion, Grossratsdebatten, Staatsverwaltungsberichte sowie zeitgenössische Publikationen (juristische Arbeiten, armenpflegerische und fürsorgerische Schriften und Artikel). Die Untersuchung der Versorgungspraxis der 1950er Jahre zeigt, dass von den Versorgungen vor allem Unterschichtsangehörige betroffen waren: Landarbeiter, Hilfsarbeiter, Gelegenheitsarbeiter oder Hausangestellte, nur wenige übten einen erlernten Beruf aus. In sehr vielen Fällen hatten die Betroffenen im Lauf ihres Lebens fürsorgerische Unterstützungsleistungen bezogen, sie mussten dies jedoch zum Zeitpunkt ihrer Einweisung nicht unbedingt tun.
Bezüglich dem Geschlechterverhältnis betrafen zwischen 1950–1959 87% der regierungsrätlichen Beschlüsse in Zusammenhang mit einer administrativen Versorgung Männer, 13% der Beschlüsse betrafen Frauen.
In der Form, wie sie in den 1950er Jahren angewandt wurden, muss den Versorgungen in vielen Fällen der Charakter eines Repressionsinstruments gegen sozial Auffällige und „Störende“ zugesprochen werden.
Es waren keine isolierten Regelverstösse oder Normbrüche, die einen administrativen Freiheitsentzug zur Folge hatten. Was beanstandet wurde, waren vielmehr eigentliche Verhaltens- und Lebensweisen. Schwer wog eine belastete Vorgeschichte mit vorangegangenen Anstaltsaufenthalten oder einem entsprechend reichhaltigen Strafregister. Die Konsequenz daraus war, dass es für die Betroffenen schwierig war, sich von einer devianten Biographie zu lösen: Auch wenn einzelne Normverstösse in der Zeit lange zurücklagen und bereits geahndet worden waren, konnten sie ein weiteres Mal herangezogen werden, um ein erneutes, allenfalls härteres, behördliches Eingreifen zu begründen.
Eine wichtige Funktion kam der psychiatrischen ausseradministrativen Expertenmeinung zu. Die Administrativbehörden nahmen die psychiatrische Beurteilungstätigkeit in Dienst, um über Versorgungs- und Unterbringungsarten zu entscheiden. Weitere Faktoren spielten in Zusammenhang mit dem Ergreifen von administrativen Versorgungsmassnahmen eine Rolle. Selten ging es allein um den Schweregrad eines sozial devianten Verhaltens. Eine wichtige Funktion kam der Tragfähigkeit des sozialen Netzwerks und der Toleranzschwelle des sozialen Nahumfelds zu, etwa der Familie, welche die Konsequenzen der Verhaltensweise der betroffenen Person auffing (auffangen musste).