„Wie mancher hat sich zur Pflicht gemacht, sich einer guten Gesellschaft zum Opfer darzugeben“ Der Berner Aufklärungssalon zwischen Aristokratisierung und republikanischen Grundsätzen

AutorIn Name
Sandro
Liniger
Art der Arbeit
Lizentiatsarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Joachim
Eibach
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2007/2008
Abstract


Die metaphorische Beschreibung sozialer Vergesellschaftung durch Niklaus Emanuel Tscharner, regelmässiger Teilnehmer an der von den 1750er bis 1760er Jahren aufrechterhaltenen Aufklärungsgeselligkeit rund um die Berner Salonière Julie Bondeli, hat der Arbeit nicht nur den Titel gegeben, sondern vermittelt einerseits die Wirkungsmächtigkeit sozialer Strukturbildung und verweist andererseits auf die Prekarität sozialer Geselligkeitsentwürfe während der Berner Aufklärung.

Im Jahrhundert der Aufklärung verbürgt der Terminus Geselligkeit die wechselseitige Hervorbringung von sozialethischen Gesinnungen und praktischer Gruppenbildung. Als utopischer Vorentwurf prozessiert soziale Vergesellschaftung so wirkungsvolle Grundsätze wie Freiwilligkeit, Gleichheit im Gespräch und Eigenentscheidung. Neue Tugenden werden aus dem geselligen Miteinander gewonnen und kommunikativ fixiert: Fleiss, Rechtschaffenheit, Verlässlichkeit, Redlichkeit, Sparsamkeit, Gleichrangigkeit und Vertrauen kennzeichnen die Geselligkeit als Verhaltensdispositiv. Die Theoretisierung der Interaktionskommunikation als gesellschaftliche Selbstbeobachtung über Druckmedien steht in wechselseitigem Konnex zur praktischen Erprobung sozialer Systeme im Medium der Anwesenheit: Angehörige gebildeter Schichten konstituieren sich neben Reformgesellschaften und Sozietäten in Salons und verschaffen den theoretisch gewonnen Erkenntnissen praktischen Ausdruck. In den geschlechtergemischten und von Frauen getragenen Salons treffen sich ausgewählte Freunde und Gäste zu heiterem Zusammensein und zu ernstem Gespräch.

Mit dem Opfer-Narrativ bringt Niklaus Emanuel Tscharner gleichzeitig die Ambivalenz geselliger Gruppenformen in der Aufklärung zum Ausdruck. Tscharner verweist auf die Kontrafaktualität sozialethischer Entwürfe: Die permanente Berufung auf den anthropologischen Geselligkeitstrieb und die geselligen Tugenden sind ein Indiz für die Divergenz zur wahrgenommenen sozialen Realität. Der sich dynamisierende Diskurs über Kommunikation innerhalb des Kreises der Salonteilnehmenden vermittelt den Relevanzverlust ideeller Impulse geselliger Sozialformen: Die Umlagerungen des an höfisch-aristokratischen Umgangsund Verkehrsformen orientierten Ideals egalitärer, handlungsentlasteter Geselligkeit. Die arbeitsintensiven und zweckgerichteten bürgerlichen Sozietäten (Vereine, Reformgesellschaften) wie die auf den sozialen Status und die Repräsentation höfischer Etikette abzielenden aristokratischen Geselligkeitsformen des Berner Patriziats können den Vorentwurf einer auf Stand und Geschlecht egalisierend wirkenden, von funktionalen Erfordernissen der geldwirtschaftlich orientierten Gesellschaft befreiten Geselligkeit nicht erfüllen. Damit sind bereits die zentralen Punkte der Studie formuliert: Gefragt wird nach der Verortung des Salons und seinen Habitués im Spannungsverhältnis vom Ideal handlungsentlasteter Geselligkeit und zweckrationaler, wechselseitiger Optimierung von Interessen im geselligen Zusammensein, von Prozessen der Aristokratisierung und von republikanischen Tugendvorstellungen. Im Rahmen von Fragestellungen der historischen Anthropologie wird nach der wechselseitigen Hervorbringung von sozialem Sinn und von Geltungsansprüchen durch die Medien der Anwesenheit und der Schrift gefragt. Die vorliegende Studie verweist in mehrfacher Hinsicht auf die Arbitrarität sozialer Sinnbildung wie auch auf die Fragilität sozialer Ordnung. Sie macht deutlich, dass kommunikativ erzeugter Sinn immer auch das Ausgeschlossene, das Andere, den Überschuss an Möglichkeiten mit sich führt und Herrschaftswie Machtstrukturen mitreflektiert und mitkonstituiert.

Im Vergleich zu den Sozietäten und zur funktional ausdifferenzierten Berner Gesellschaft markiert die prozessuale Vergesellschaftung im Salon eine weitgehende Annäherung an die vermittelten normativen Anforderungen handlungsentlasteter, natürlicher und gleichrangiger Geselligkeit. Der Salon und seine Mitglieder präsentieren sich im Spannungsfeld der an den republikanisch-patriotischen Grundsätzen angelehnten, häuslichländlichen, funktionsentlasteten und auf Intimität beruhenden Geselligkeit und dem Ideal höfischaristokratischer Umgangsregeln. Der Salon rund um führende Berner Aufklärer markiert somit ein Relais verschiedener Sozialitätsformen. Als hybride Sozialform kennzeichnet der Salon weniger eine Gegenstruktur zur Berner Gesellschaft, als eine Schnittstelle zwischen verschiedenen Vorstellungen des geselligen Miteinanders und der darauf beruhenden, kommunikativ erzeugten Regeln und Pflichten. Die Hybridstellung des Salons erklärt das kurze Bestehen der geselligen Runden in einer über die Zeitenwende also das gezielte Absetzen von der höfisch-aristokratischen Welt sich instituierenden bürgerlichen Gesellschaft. Die Verdrängung des Salons funktioniert als Abjektion weiblicher Geselligkeitsformen in Form eines Schwellenrituals bei der Begründung der androzentrischen Republik.

Zugang zur Arbeit

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