Art der Arbeit
Dissertation
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Pfister
Kodirektion
Prof. Christian Rohr
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2012/2013
Abstract
Die Arbeit wurde publiziert: Basel, Schwabe Verlag 2015
(Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte 4)
Hunger haftete bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwas Rückständiges an. Das Österreichische Bürgerblatt beklagte in seinen Betrachtungen zur Hungerkrise in der Schweiz in den Jahren 1816/17, dass es „noch im neunzehnten Jahrhundert mitten in Europa, mitten unter Christen, mitten unter lauter cultivierten Staaten und den fruchtbarsten Ländern, [...] dass es unter allen diesen Umständen noch möglich war, dass Tausende von Menschen Hungers sterben, und zwar nicht etwa in einer ganz unvermeidlichen, plötzlich eintretenden Noth von einigen Tagen, sondern während eines durch zwey bis drey Jahre anhaltenden Elendes, dem doch durch thätige Anstrengung in wenigen Monathen abgeholfen werden konnte.“ Ja, wie war es möglich, dass in der Schweiz noch Menschen verhungerten und sie gemäss dem Diktum von John D. Post in seinem Standardwerk The Last Great Subsistence Crisis of the Western World (1977) stärker unter der Hungerkrise litt als alle anderen Staaten?
Hungerkrisen sind paradoxe Phänomene. Einerseits handelt es sich um schleichende Katastrophen (slow onset disasters), die stets die Folge von langfristigen und auslösenden Prozessen sind. Andererseits sind sie Ereignisse, in denen sich parallele und ebenenübergreifende Prozesse überlagern und die den Zustand eines (gesellschaftlichen) Systems meist dauerhaft verändern. Ausgehend vom interdisziplinären Konzept der Vulnerabilität – die Hungerforschung befindet sich an der Schnittstelle der Naturund Geisteswissenschaften – geht die Dissertation der Frage nach, welche Faktoren die sozio-ökonomische Verletzlichkeit einer bestimmten Schicht in einem bestimmten Raum zu einem bestimmten Zeitpunkt beeinflussten. Um die Prozesse fassen zu können, wurde ein eigenständiges synoptisches Modell zu den konzeptionellen Strukturen des Hungers aus dem Forschungsdiskurs der letzten beiden Jahrhunderte entwickelt. Die Intensität der Krise und die räumlichen Dimensionen der Verletzlichkeit wurden durch Mangelernährungskarten für die Jahre 1817 und 1818 sichtbar gemacht.
Die Eruption des Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa im April 1815 führte 1816 zu einer globalen Abkühlung von ca. 0.5 °C. Obwohl die Auswirkungen global waren, äusserten sich die extremen klimatischen Bedingungen nicht überall gleich. Während auf der iberischen Halbinsel eine der stärksten Dürren der letzten 500 Jahre auftrat und die Ernte im Baltikum und um das Schwarze Meer gut ausfielen, zog die anhaltende Nässe und Kälte im „Jahr ohne Sommer“ in Mittelund Westeuropa grosse Ernteausfälle nach sich. Selbst innerhalb der Eidgenossenschaft traten regionale Unterschiede auf: Die Gebiete auf der Alpensüdseite lagen im Regenschatten der Alpen und profitierten von einer klimatischen Gunstlage. Aus der Perspektive der Historischen Klimatologie kann durch die Bündelung von Klima, Ernährung und Politik am Beispiel des „Jahres ohne Sommer“ 1816 eine der immer wieder geforderten best data studies realisiert werden.
Neben dem klimabedingten Nord–SüdMuster zeichnete sich auch ein Ost–West-Muster ab, das Markus Mattmüller in seiner Bevölkerungsgeschichte der Schweiz (1987) bereits am Beispiel der Teuerungskrise in den 1690er-Jahren herausgearbeitet hatte. Die räumlichen Disparitäten auf der Alpennordseite wurden durch verschiedene Faktoren begünstigt und machten sich auf mehreren Ebenen bemerkbar. Die Verletzlichkeit zeigte sich 1817 in Bezirken, die unter grossen Ertragsausfällen durch die Missernten zu leiden hatten. Zu ihnen gehörten die Weinbaugebiete an den Sonnenhängen der grossen Seen, grosse Teile des agrarisch geprägten Kantons Bern und die Städte, die auf die Versorgung durch ihr Umland angewiesen waren. Als verletzlich erwiesen sich besonders Personen, die sich auf dem Markt mit Lebensmitteln eindecken mussten oder die in eine doppelte Abhängigkeit vom Markt geraten waren wie Winzer und Textilarbeiter. Ein Jahr später verlagerte sich die Verletzlichkeit aus den landwirtschaftlich geprägten Bezirken im Westen in den Uhrengürtel im Jura sowie in die protoindustrialisierten und dicht besiedelten Bezirke in der Ostschweiz, die teilweise bereits 1817 zu den verletzlichen Bezirken gehört hatten.
In der Ostschweiz hatten sich seit dem Spätmittelalter das Leinwandgewerbe und später die Baumwollverarbeitung auf Kosten der Landwirtschaft ausgebreitet. Im Laufe der Zeit waren protoindustrielle Zentren mit einer hohen Bevölkerungsdichte entstanden, die in einen grenzübergreifenden Getreidemarkt integriert waren: Während die kommerzialisierte Landwirtschaft im süddeutschen Raum die Ostschweiz mit Getreide versorgte, exportierte die Ostschweiz Textilprodukte in die Nachbarstaaten. Als der Getreidemarkt um den Bodensee unter der Last der Getreidesperren zusammenbrach, gelangte in Rorschach beinahe kein Getreide mehr auf den Markt. Verschärft wurde die Situation durch die Embargos, welche die Kantone trotz eines Verbots im Bundesvertrag von 1815 verhängten und die eine freie Zirkulation des Getreides innerhalb der Eidgenossenschaft verhinderten. Die hungernde Bevölkerung litt allerdings nicht nur unter der Teuerung: Die Strukturen der Textilindustrie wandelten sich durch die Mechanisierung der Webstühle grundlegend, und traditionelle Absatzgebiete waren durch die protektionistische Handelspolitik der umliegenden Staaten weggebrochen. Die Textilarbeiter mussten erhebliche Lohneinbussen in Kauf nehmen und standen sprichwörtlich mit leeren Händen da.
Das Nord–Süd-Muster und das Ost–WestMuster lassen sich um ein politisches Muster erweitern: Die Kantone wiesen verschiedene V erwaltungstraditionen auf und griffen unterschiedlich stark in den Markt ein. An den Kantonen Genf und Thurgau lassen sich die ungleichen Traditionen gut veranschaulichen. Genf besass seit 1628 eine Chambre des Blés, die zwischen 1693 und 1794 neun Mal in erheblichem Ausmass in den Markt intervenierte, um mit verbilligtem Getreide Teuerungen zu dämpfen. Obwohl die Chambre des Blés am Ende des Ancien Régime aufgelöst wurde, griff die Regierung in der Hungerkrise1816/17 früh in erheblichem Ausmass in den Markt ein. Der Kanton Thurgau wies als junges Staatswesen hingegen „noch wenig entwickelte Infrastrukturen auf [...]. Solche Voraussetzungen waren nicht die besten zur Bewältigung einer Krise dieses Ausmasses“, konstatierte Louis Specker in Die grosse Heimsuchung (1995). Der Regierung scheint es im Vergleich zu Genf allerdings nicht nur an jahrzehntelangen Erfahrungen im Umgang mit Teuerungskrisen gefehlt zu haben, sondern auch am politischen Willen. Obwohl einige Gemeinden V orschüsse oder einmalige Beiträge erhielten, schloss die Staatsrechnung 1817 mit einem Gewinn von 19 000 Fr. (2009: ca. 2.2 Mio. Fr.). Gleichzeitig bemängelte die Central-Armen-Commission die staatliche Aufsicht über das Armenwesen. Die meisten Staatsdiener seien „in öffentlichen Geschäften ungeübt“, seien „gering entschädigt“ worden und hätten sich „ohne höhere Nachhülfe in planlosem Kampf gegen Schwierigkeiten aller Art“ befunden.
Die Verletzlichkeit wies verschiedene Eigenschaften auf. Erstens lag ihre Genese in der Vergangenheit, weil die gesellschaftlichen Strukturen historisch gewachsen waren. Zweiten war sie räumlich determiniert, weil ein Ereignis nicht in allen kulturell unterschiedlich ausgestalteten Naturräumen die gleichen Auswirkungen hatte. Drittens war sie multikausal, komplex und kumulativ, weil während eines Ereignisses Prozesse gleichzeitig auftreten, sich beeinflussen und verstärken konnten. Viertens war sie dynamisch, nicht statisch, weil sich die klimatischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen kurzfristig, langfristig und zyklisch verändern konnten.