Dass es in der Schweiz bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu systematischen Kindswegnahmen und systematischen Fremdplatzierungen von Kindern kam, ist seit dem Skandal um das „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“ bekannt. Neben den Familien, die effektiv auseinandergenommen wurden, gab es auch Familien, denen eine Kindswegnahme angedroht oder eine Fremdplatzierung der Kinder nahegelegt wurde. Die betroffenen Familien lebten teilweise über Jahre in der Angst auseinandergenommen zu werden.
Für die Lizenziatsarbeit habe ich sechs Menschen befragt, die oben beschriebene Situation als Kind oder als Elternteil erlebt hatten. Ich wollte von ihnen wissen, wie die drohende Kindswegnahme in der Familie, in der Schule, bei Behördenbesuchen sichtbar wurde, wie sie die drohende Kindswegnahme subjektiv wahrgenommen hatten und wie sich die behördlichen und gesellschaftlichen Ansprüche und Disziplinierungsversuche in ihrem Alltag und auf ihre Lebensweise auswirkte. Ich beschränkte mich dabei auf Familien mit nur einem Elternteil, da sie in besonderem Masse nicht den gängigen gesellschaftlichen Vorstellungen entsprachen. Alle Mütter oder Väter dieser Einelternfamilien mussten um die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Elternschaft kämpfen. Die Lebensumstände von Familien, in denen eine Fremdplatzierung der Kinder zur Diskussion stand, zeigen die Grenzverläufe staatlicher Interventionen in Familien: Wer war von der drohenden Kindswegnahme betroffen? Und wie verweisen diese Familien auf effektiv auseinandergenommene Familien?