In der Schweiz und anderen europäischen Ländern bildete sich in den 1920er Jahren eine neuartige Bewegung heraus: die proletarischen Freidenker, die sich in der Schweiz ab 1930 als Proletarischer Freidenkerverband der Schweiz-Sektion der Internationale Proletarischer Freidenker (PFV) organisierten. Sie hatten mit den herkömmlichen, bürgerlich geprägten Freidenkern ein atheistisches Weltverständnis gemeinsam, sowie die Überzeugung, dass die Kirche dem Fortschritt der Gesellschaft im Weg stehe und daher abgeschafft werden solle. In Anlehnung an die Russische Revolution hielten die proletarischen Freidenker die kommunistische Revolution für den einzigen Weg zur endgültigen Überwindung der Kirche und zur Schaffung einer neuen, besseren Gesellschaft. Sie trafen in verschiedenen Ländern auf starken Widerstand und wurden teilweise gar verboten. Auch in der Schweiz riefen die proletarischen Freidenker eine Offensive gegen die sogenannte „Gottlosenbewegung“ hervor.
Die Masterarbeit, die als Grundlagenforschung angelegt ist, geht der Frage nach, welche Rolle die proletarischen Freidenker in der Geschichte der schweizerischen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus spielten. Sie umreisst die Geschichte des PFV, situiert ihn im Kontext der Schweiz in der Zeit zwischen den Weltkriegen und fragt nach grundlegenden Erkenntnissen über den PFV als signifikanten Akteur in der Geschichte der schweizerischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Kommunismus und der Sowjetunion im Zeitraum zwischen 1927 und 1936.
Der erste Teil der Arbeit erläutert Ursprung, Geschichte und Ende des PFV. Er beleuchtet den Verband als Teil der Freidenker in der Schweiz, als Organisation mit starkem Bezug zum sowjetischen Bund der kämpfenden Gottlosen, sowie als Mitglied der Internationale Proletarischer Freidenker und bietet eine Übersicht über die Vereinsgeschichte von 1927 bis 1936.
Im zweiten Teil wird die Debatte um die proletarischen Freidenker anhand dreier Akteur:innen vorgestellt, die sich aktiv am Kampf gegen den proletarischen Freidenkerverband beteiligten: der Schweizerische Vaterländische Verband, die katholische Kirche sowie die Entente Internationale Anticommuniste. Mittels dreier zentraler Quellen folgt anschliessend eine Analyse der Argumente und Denkweisen, die in der Debatte um die proletarischen Freidenker in der Schweiz entstanden und Brennpunkte des Konflikts sichtbar werden lassen.
Ihrem Charakter als Grundlagenforschung entsprechend, geht diese Arbeit explorativ vor und legt mit Blick auf die vorhandenen Quellenbestände Ansatzpunkte für die vertiefte Forschung frei. Ausgangspunkt bildet ein umfangreiches Dossier der Schweizerischen Bundesanwaltschaft mit Polizeiberichten, Korrespondenzen, Presseartikeln und Publikationen unterschiedlicher Institutionen. Weitere untersuchte Quellenbestände sind das Pressearchiv des Schweizerischen Vaterländischen Verbands, Protokolle und Korrespondenzen aus dem Archiv der Schweizerischen Bischofskonferenz, des Schweizerischen Katholischen Volksvereins und der Freigeistigen Vereinigung der Schweiz, Publikationen aus dem PFV sowie die Zeitschrift der Freigeistigen Vereinigung der Schweiz. Für die detailliertere Analyse des Konflikts zwischen dem PFV und seinen Gegner:innen untersucht die Arbeit exemplarisch das Bettagsmandat der schweizerischen Bischöfe Abwehrkampf wider die Gottlosenbewegung (1932), die Gottlosendebatte im Nationalrat (1933) und die Begleitbroschüre zur Anti-Gottlosen-Ausstellung (1934).
Auf der Grundlage dieser vielseitigen Quellen bietet diese Arbeit einen ersten Aufriss sowie einige Schlaglichter auf zentrale Ereignisse der Geschichte eines an sich kleinen Verbands, der in der Schweiz in einer Zeit der gesellschaftlichen Verunsicherung und Neuorientierung zu einem Auslöser für eine öffentliche Auseinandersetzung wurde. Durch den expliziten Bezug auf den Sowjetkommunismus weckte er grundlegende (Unterwanderungs-)Ängste vieler Menschen in der Schweiz in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Die Freidenkerbewegung hinterfragte Institutionen, die viele Menschen als grundlegend, bewährt oder „heilig“ empfanden, wie die Kirche, die Familie, das Bildungssystem und so weiter. Diese Angriffe erfolgtennichtetwainverborgenerWeise,sondern offen,kämpferisch,miteinemstrategischenFokus auf die Beeinflussung von Kindern und Jugendlichen und mit einer ständigen Bezugnahme auf den sowjetischen Bund der kämpfenden Gottlosen – dies in den Jahren, in denen zunehmend Bilder von Christenverfolgungen und Hungersnöten aus der Sowjetunion nach Westeuropa gelangten. Auf privater, kirchlicher, staatlicher und internationaler Ebene formierten sich Widerstände sowie eine mehrere Jahre andauernde Debatte über den Proletarischen Freidenkerverband.
Die untersuchten Quellen zeigen auf, dass beide Seiten sehr grosszügig auf Stereotypisierungen, überspitzte Darstellungen und undifferenzierte Aussagen zurückgriffen, um ihre jeweiligen Gegner:innen zu denunzieren und den eigenen Standpunkt zu stärken. Die Argumentation beider Seiten fiel immer wieder in das Schema einer simplifizierenden Gegenüberstellung von Christentum und Atheismus, was gleichgesetzt wurde mit den (unterstellten) Antagonismen Kapitalismus vs. Kommunismus, Westen vs. Osten, Kirche vs. Gottlosenbewegung. Anhand der untersuchten Quellen wird gezeigt, dass diese Debatte weit mehr als die proletarische Freidenkerbewegung an sich umfasste. Vielmehr kristallisierten sich in ihr Ängste und Hoffnungen, die mit weltweiten Entwicklungen im Zusammenhang standen und sich durch unterschiedliche Akteure konkret ausdrückten.