Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Christian
Gerlach
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2020/2021
Abstract
1972 fand in Stockholm die erste UN-Konferenz zur Umwelt des Menschen (UNCHE) mit 113 Staaten statt, in deren Vorbereitungsphase 86 Länder Berichte über den Zustand der Umwelt erstellten. Während die UNCHE historisch gut untersucht ist, lassen sich zwei Desiderate im Forschungsstand ausmachen: Erstens fehlt eine systematische Auseinandersetzung mit dem im Vorbereitungsprozess generierten Wissen. Zweitens analysieren viele Arbeiten ein globales Phänomen aus einer nationalen Perspektive, während international vergleichende Arbeiten bisher rar sind. An diesen Lücken setzt die Masterarbeit an, indem sie die Entstehung des globalen Umweltwissens im Rahmen der UNCHE untersucht. Die im Vorbereitungsprozess entstandenen Länderberichte stehen als Quellen im Zentrum, ergänzt durch Archivmaterialien aus dem Nachlass des Generalsekretärs der UNCHE, Maurice Strong, sowie aus dem Konferenzsekretariat. Der über 3'000 Seiten umfassende Quellenkorpus wird mit einer computergestützten qualitativen Inhaltsanalyse bearbeitet. Anhand einer international vergleichenden Untersuchung von 59 Länderberichten wird die Entstehung von globalem Umweltwissen zu Beginn der 1970er Jahre analysiert. Umweltwissen wird dabei verstanden als die Identifikation von Umweltproblemen und daraufhin umgesetzte Umweltpolitik. An der Schnittstelle von Global-, Wissens-, Umwelt- und Politikgeschichte wird gefragt, welche Umweltprobleme die nationalen Administrationen und ihre wissenschaftlichen Berater*innen um 1970 identifizierten und welche Massnahmen implementiert wurden.
Die Masterarbeit beleuchtet damit das Umweltproblemverständnis sowie nationale und internationale Umweltpolitikformen um 1970 und stellt diese in einen globalen Kontext. Die Länderberichte stellten in vielen Staaten die erste systematische Katalogisierung von Umweltproblemen sowie Massnahmen dar und trugen dazu bei, Umwelt in ein globales Politikfeld zu transformieren. Die identifizierten Umweltprobleme standen entweder im Zusammenhang mit Bevölkerungswachstum, mit Armut oder mit Industrialisierungsund Wachstumsprozessen. Die Hauptprobleme bestanden in der Verschmutzung der Erde und der Übernutzung der natürlichen Ressourcen, wobei sich beide Phänomene proportional zu Bevölkerungsdichte, Urbanisierung, Industrialisierung, motorisiertem Verkehr und Konsum ausdrückten. Dabei fassten die Länderberichte die Umweltprobleme auf drei Weisen auf: als Krise und Bedrohung der Existenzgrundlage, in ihren ökologischen Zusammenhängen sowie als grenzübergreifendes und globales Phänomen. Ebenso verknüpften die Berichte Zukunft und Umwelt untrennbar miteinander.
Die Berichte forderten eine ganzheitliche Umweltpolitik, was in Widerspruch zu den getroffenen Massnahmen steht. Auch wenn es unter den sieben um 1970 umgesetzten Massnahmeformen – den rechtlichen, institutionellen, planerischen, technischen, wirtschaftlichen Instrumenten sowie der Umweltforschung und Umweltbildung – ganzheitliche Lösungen gab, gestalteten sich die Massnahmen mehrheitlich sektoral und auf nationaler Ebene. Die Formen sowie die Anzahl der Massnahmen unterschieden sich zwischen den einzelnen Staaten, wobei der ausschlaggebende Unterscheidungsfaktor der Industrialisierungsgrad war, während die geographische Lage sowie die Organisation der Wirtschaft nur wenig Einfluss hatte.
Auch wenn um 1970 ökologische Argumentationen verwendet wurden, blieben ökonomische Logiken die wirkmächtigste Kategorie bei der Bewertung der Umwelt. Eine Hinterfragung des ökonomischen Wachstums zogen die Autor*innen der Berichte nicht in Betracht. Stattdessen wurden Umwelt und ökonomische Entwicklung eng verzahnt gedacht. In der Auffassung der Politikakteur* innen stand die Umwelt im Dienst des Menschen und der Ökonomie. Umweltschutz wurde ausschliesslich betrieben, wenn er dem Wohl der Menschen oder der nationalen Wirtschaft diente.
Die vier theoretischen Perspektiven verdeutlichen weitere Zusammenhänge: Der globalhistorische Ansatz zeigt, dass die Erhebung von Umweltwissen um 1970 ein globales Ereignis war und Länder auf der ganzen Welt an der Entstehung beteiligt waren. Aufgrund des umwelthistorischen Blickwinkels wird deutlich, dass die Wahrnehmungen von Umwelt wandelbar, umkämpft und politisiert waren. Folglich handelte es sich bei der anthropozentrischen und ökonomisierten Umweltvorstellung der Berichte um eine kontingente Auffassung. Der politikhistorische Ansatz zeigt, dass die Ausgestaltung der Umweltpolitik von Annahmen über die Verschränkung von Ökonomie und Ökologie geprägt war. Die wissensgeschichtliche Perspektive verdeutlicht, dass Wissen über die Umwelt nicht in einem machtleeren Raum entstand, sondern von Normen und politischen Annahmen geformt war. Wissen war – und ist – ein mächtiges Instrument in der Entwicklung von Umweltpolitik. Die Untersuchung des im Rahmen der UNCHE entstandenen Umweltwissens verweist daher auch auf die Zusammenhänge der Politisierung von Umweltwissen und der Verwissenschaftlichung von Umweltpolitik um 1970.