«Die Zeiten in Russland ändern sich gewaltig». Die Wahrnehmung des Fremden in den Selbstzeugnissen von Ernst Jucker

AutorIn Name
Noëmi
Parlevliet
Art der Arbeit
Masterarbeit
Stand
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Dr. habil.
Carmen
Scheide
Institution
Historisches Institut
Ort
Bern
Jahr
2019/2020
Abstract
Die Arbeit untersucht die Russlandbilder von Ernst Jucker (1891–1976), der zufällig nach Russland auswanderte. Der junge Lehrer lernte in Zürich die russische Medizinstudentin Sonja Kucks kennen und reiste 1916 in die Heimat seiner späteren Frau. Sein Plan, nach einem halben Jahr heimzukehren, ging nicht auf, da die Revolution ausbrach, und so kehrte er erst 1932 mit seiner Familie in die Schweiz zurück. In den 16 Jahren, die er in Russland verbrachte, konnte er eine steile berufliche Karriereleiter erklimmen und war im Exekutivkomitee der westsibirischen Regierung als Parteiloser beteiligt. Nach seiner Rückkehr arbeitete er wieder als Sekundarlehrer, engagierte sich im Rahmen der «Geistigen Landesverteidigung» und hielt etliche Vorträge vor der Armee. Jucker schrieb während seines Aufenthalts in Russland Briefe an seinen Bruder, kurz nach seiner Rückkehr mehrere Bücher unter dem Pseudonym Richard Hart und schliesslich einige Publikationen unter seinem eigenen Namen. Die Briefe sowie eine Auswahl der Literatur bildeten die Quellenbasis für diese Masterarbeit. Die vergleichende Analyse der Russlandbilder von Ernst Jucker zu diesen drei unterschiedlichen Zeitpunkten kann die subjektiven Faktoren der Eindrücke und Vorstellungen unterstreichen und Veränderungen ausmachen. Als Auswanderer setzte sich Jucker intensiv mit der zunächst fremden Kultur auseinander. Seine Einschätzungen und Beurteilungen veränderten sich im Laufe der Zeit, was durch die einzelfallbezogene Biografieforschung exemplarisch und systematisch anhand von fünf Themen erarbeitet wurde. Das Russlandbild, welches Jucker während seines Aufenthalts in den Briefen an seinen Bruder zeichnete, ist positiv geprägt, er war überzeugt von der wichtigen Bedeutung der politischen Veränderungen nach dem Ende des Zarenreiches. Diese Bewertung ging auch mit seiner steilen beruflichen Karriere einher, er konnte eine Mittelschule und ein Lehrerseminar gründen, welchem er als Direktor vorstand, und dieses schliesslich in ein pädagogisches Technikum umwandeln. Die angewendeten Methoden am Technikum konnte Jucker selbst bestimmen und somit seine Ideen verbreiten. Er sah sich als «Kulturträger» und schätzte seine Arbeit als bedeutend ein, was einen sinnstiftenden Charakter für die eigene Selbstdarstellung hatte. Seine Tätigkeit im Bildungsbereich sowie in der Politik erweckten in ihm den Eindruck, sich in einem freien Land zu befinden. Sein Russlandbild während des Aufenthalts war demnach geprägt von seiner Arbeit, von seinen Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten, welche ihm in der Schweiz zu diesem Zeitpunkt wohl verwehrt geblieben wären. Mit dem Beginn der Stalinisierung seit 1929 gab es auch Änderungen im Schulsystem und Juckers persönliche sowie berufliche Freiheiten wurden eingeschränkt. Mit der Rückkehr verbunden war vermutlich auch eine Ernüchterung, die daher rührte, dass politische Überzeugungen und Wünsche nicht befriedigt wurden. Nichtsdestotrotz stellte er den Menschen, die in Russland lebten, ein positives Zeugnis aus. Dieses Russlandbild änderte sich nach seiner Rückkehr. Jucker hatte zunächst die Intention, vor der Stärke Russlands zu warnen und kritisierte Entscheide der Regierenden, die Politik und ihre Auswirkungen im Wirtschaftsbereich. Diese Kritik veränderte sich nicht in der Zeit nach seiner Rückkehr. In seiner Publikation «Erlebtes Russland» von 1945 ist das Russlandbild differenzierter dargestellt als unter seinem Pseudonym. Der grösste Unterschied zwischen den Russlandbildern ist die Bewertung der Menschen, die in Russland lebten. Während das Buch «Aus dem Leben des russischen Bauern», welches 1932 unter seinem Pseudonym publiziert wurde, vorwiegend eine warnende Funktion einnahm, versuchte Jucker unter seinem eigenen Namen auch Verständnis für die Menschen, die in Russland lebten, zu erwirken. Dennoch verfolgte er bei beiden Büchern das Ziel der Aufklärung und er wollte der russischen Propaganda entgegenwirken, was auch mit der damaligen Grosswetterlage zusammenhing. Jucker wurde zudem vom Diskurs der Schweizer Bevölkerung und der Presse geprägt, in welchem bis in die Mitte der 1930er Jahre ablehnende Grundtendenzen bezüglich Russland erkennbar waren. Während sich Jucker zur Zeit seines Aufenthalts noch als Teil eines wichtigen Prozesses sah, bemerkte er nach seiner Rückkehr, dass die dort erlebten Entwicklungen nicht erfolgreich sein konnten. Diese Aussagen aus der Retrospektive sind auch einer positiven Selbstdarstellung dienlich und können eine sinnstiftende Funktion beinhalten. Seinen Aufenthalt in Russland schätzte Jucker über alle untersuchten Zeitphasen hinweg als wichtig ein. Zunächst in seiner Tätigkeit in Russland, später in der Aufklärungsarbeit für die Schweizer Bevölkerung.

Zugang zur Arbeit

Bibliothek

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