Hingehört

Die Archive sind derzeit nicht bloss mit dem Transfer von Papier (Akten, Zeitungen, Büchern etc.), Zellulose (Filme) oder Glas (Photographien) auf magnetische und optische Datenträger beschäftigt, sondern auch mit dem Überspielen von akustischen Signalen auf Schellack, Vinyl, Acetylzellulose in computerlesbare Files.
Die Geschichtswissenschaft hat dieses erweiterte Angebot an Soundarchiven bislang weitgehend ignoriert und sich methodisch und geschichtstheoretisch noch kaum mit einer Quellenkritik des Akustischen beschäftigt. Inzwischen sind in vielen Archiven visuelle Dokumente historischen Interesses in Datenbanken erschlossen und per Tastendruck auf dem Computer zuhause einsehbar.

Demgegenüber ist die Ausbeute der online greifbaren Tondokumente einschlägiger Archive der Schweiz eine Enttäuschung: Die Schweizerische Nationalphonotek (www.fonoteca.ch), welche im Auftrag des Schweizerischen Staates Tonträger sammelt, bietet online-Zugang zu den Dokumenten der Nationalphonothek, allerdings nicht frei Haus, sondern in klar abgrenzbaren Abhörplätzen in Bibliotheken, Archiven und Universitäten der ganzen Schweiz. Memoriav (www.memoriav.ch) plant in den nächsten Jahren die digitalisierten Bestände des SRG-Radios aufzuschalten, jedoch auch bloss in gesicherten Arbeitsstationen. Es zeigt sich, dass Rücksichten auf urheber- und nachbarrechtliche Normen die technischen Möglichkeiten des digitalisierten Zugangs von Tonarchiven bremsen.

Das Sozialarchiv (www.sozialarchiv.ch/) will diesen Sommer neben den bereits online verfügbaren Bildquellen auch Audiodokumente aufschalten: Dann kann man beispielsweise die Vollversammlungen der Zürcher Jugendbewegung von 1980 anhören oder Sitzungen von Gewerkschaftsfunktionären aus den 1950er Jahren lauschen.

Die Historischen Seminare an den Universitäten sind gefordert, Hörstationen einzurichten und den Sound der Vergangenheit der Forschung zugänglich zu machen und sich endlich mit einer Quellenkritik das Akustischen beschäftigen. Was geschieht sozial und medial, wenn flüchtige akustische Signale festgehalten werden? Was passiert mit dem Sound aus dem Jugendhaus, wenn er im Archiv des Historikers landet? Was bedeutet es eigentlich, wenn technische Geräte historische Ereignisse akustisch festhalten – mit und ohne Wissen oder Einverständnis der Anwesenden? Denn im Zeitalter der technischen Speicherbarkeit des Akustischen kann aus dem Hinhören immer auch ein Mithören oder gar ein Abhören werden.