Der Zweite Weltkrieg als „Lehrmeister der Chirurgie“ – auch für die Schweiz? Kriegschirurgische Erfahrungsvermittlung am Beispiel der ersten Schweizer Ärztemission an die Ostfront 1941/42

Cognome dell'autore
Anouk
Hiedl
Tipo di ricerca
Tesi di laurea
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Brigitte
Studer
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2006/2007
Abstract

Am 15. Oktober 1941 reiste die erste Schweizer Ärztemission unter dem Patronat des Schweizerischen Roten Kreuzes an die deutsche Ostfront. Dort leistete sie drei Monate lang in deutschen Lazaretten medizinische Hilfe. Die verschiedenen Missionsequipen umfassten insgesamt 79 Freiwillige, darunter Chirurgen, Ärzte, Krankenschwestern, Sekretärinnen, Arztgehilfen und Motorfahrer.

 

Die Stimmung in der Schweiz war vom wirtschaftlichen und ideologischen Druck Deutschlands und der subjektiv steigenden Kriegsbedrohung geprägt. Die erste Ärztemission an die Ostfront wurde deshalb u.a. mit politisch-wirtschaftlichen Argumenten legitimiert. Die zeitgenössische „praktische“ Begründung hingegen betonte die Möglichkeit, während des Hilfseinsatzes medizinisch-chirurgisches Wissen zu gewinnen. 

 

Verschiedene, publizierte und unveröffentlichte Erfahrungsberichte heben den Nutzen hervor, den die Schweizer Kriegsmedizin aus diesem humanitären Einsatz ziehen konnte. Dr. Guy von Wyttenbach, der organisatorische Missionsleiter, z.B. betonte, dass die deutschen Mediziner bei gleicher Vorbildung wie die Schweizer „durch den monateund jahrelangen [...] Einsatz praktische Erfahrungen und eine Routine in diagnostischer, therapeutischer und vor allem chirurgisch-technischer Hinsicht [besassen], die sich die Schweizer Chirurgen erst aneignen mussten.“ Für ihn bildeten die teilnehmenden Ärzte einen wegleitenden Bestand an Medizinern, auf deren Wissen die Schweizer Kriegschirurgie bei einem potentiellen Kriegsausbruch zurückgreifen könnte. Dank dessen könnten viele grundlegende Fehler im Ernstfall vermieden werden und der Schweiz – im Gegensatz zu anderen Staaten – das Bezahlen eines medizinischen Lehrgelds erspart bleiben.

 

Bis Mitte Dezember 1941 waren die Schweizer Missionsequipen in zehn Kriegs- und Feldlazaretten in und um Smolensk tätig, wo sie selbständig oder mit deutschen Ärzten und Krankenschwestern zusammenarbeiteten. Zu dieser Zeit setzte die für Deutschland negative Kriegswende ein, was zu einem drastischen Anstieg der Arbeit in den deutschen Lazaretten führte. Die Schweizer Ärzte wurden mit viel Verantwortung und prekären Verhältnissen konfrontiert. Die meisten Lazarette waren mit Verwundeten überbelegt und verfügten über zu wenig medizinisches Sanitätspersonal. Die Missionsteilnehmer erfuhren bald, was Kriegschirurgie bedeutete: Die meisten Schusswunden waren schwer infiziert, und eine aseptische Behandlung war im Gegensatz zur Friedenschirurgie oft nicht gewährleistet. Im Feldlazarett 606 etwa bestand die Arbeit v.a. aus der Versorgung komplizierter Weichteil- und Knochenwunden und dem Anlegen von Extensionen, Fixations- und Gipsverbänden. Allgemein sehr wichtig war die Versorgung von Blutungen, und Amputationen gehörten zu den häufigsten Operationen.

 

In Friedenszeiten wäre es kaum möglich gewesen, eine grosse Zahl sich ähnelnder, medizinischer Fälle an einem Ort, wie dem Lazarett, vorzufinden. In Anbetracht dessen wurden die beiden Weltkriege medizinhistorisch als „gewaltige Experimentator[en]“ oder „Wohltäter der Medizin“ charakterisiert. In diesem Zusammenhang beleuchtet die Lizentiatsarbeit den von der Forschung bisher übergangenen potentiellen „Erfahrungsgewinn für die schweizerische Kriegschirurgie“ und untersucht die kriegsmedizinischen Erkenntnisse der ersten Schweizer Ärztemission.

 

Einleitend werden Fragestellung und Quellenbasis der Arbeit sowie das methodische Vorgehen vorgestellt. Kapitel 2 ist den wichtigsten (kriegs-)medizinischen und sanitätspraktischen Neuerungen von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg gewidmet. Diskutiert werden auch Unterschiede zwischen Kriegs- und Friedensmedizin sowie daraus resultierende Dilemmata. Kapitel 3 vermittelt einen Überblick über die Organisation der deutschen Militärsanität an der Ostfront. Kapitel 4 befasst sich mit den praktischen Erfahrungen und fachlichen Erkenntnis- und Weiterbildungsmöglichkeiten der Schweizer Ärzte „im Felde“. Wichtigste Grundlagen dazu sind die Fachberichte der Schweizer Ärzte Dr. Rudolf Bucher und Dr. Ernst Baumann. Bucher war Chef des Bluttransfusionsdienstes der Schweizer Armee und konnte an der Ostfront u.a. das von ihm konstruierte Bluttransfusionsgerät erproben, während sich Baumann als Chirurg mit (gasbildenden) Infektionen, Erfrierungen und dem verwendeten deutschen Operationsinstrumentarium befasste. Diesbezüglich werden auch die Verbesserungsvorschläge der beiden Ärzte für die medizinische Kriegsvorbereitung des Schweizer Armeesanitätsdiensts aufgezeigt. Kapitel 5 beleuchtet die Weitervermittlung des erworbenen Wissens in Forschung und Lehre und illustriert am Beispiel der Universität Bern, inwiefern sich das Interesse an Kriegschirurgie innerhalb der Schweizer Ärzteausbildung manifestierte. Zusammenfassend zeigt die Lizentiatsarbeit auf, dass die „praktische Begründung“ der ersten Ärztemission an die Ostfront berechtigt war, und dass sich der Zweite Weltkrieg auch für Schweizer Ärzte als „Lehrmeister der Chirurgie“ erwies.

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