Die Schule im Dienst der Volksgesundheitspflege. Diskurs über Krankheit und Gesundheit im schulischen Kontext zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz

Cognome dell'autore
Michèle
Hofmann
Tipo di ricerca
Tesi di laurea
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Heinrich Richard
Schmidt
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2005/2006
Abstract

Im ausgehenden 19. Jahrhundert wird die Schulhygiene im deutschsprachigen Raum zu einem breit diskutierten Gegenstand. Die Hygieniker erkennen den Wert der Schule bei der Verbreitung von Informationsmaterial über Gesundheitspflege. In der Konsequenz entwickelt sich die Schule zu einem bedeutenden Wirkungsfeld der Hygienebewegung. Unter dem Terminus „Schulhygiene“ werden um die Wende zum 20. Jahrhundert alle Bestrebungen subsumiert, die dem Zweck dienen, die Gesundheit der Schulkinder und der Lehrkräfte zu erhalten, resp. zu heben. Während also Gesundheit das erklärte Ziel der schulhygienischen Massnahmen darstellt, kann Krankheit als Gegenpunkt angesehen werden – sie gilt es fern zu halten. Die Diskussion über Schulgesundheitspflege bewegt sich mithin im Spannungsfeld zwischen Gesundheit und Krankheit.

 

Diese Debatten stellen, insbesondere für die Schweiz, ein Forschungsdesiderat dar. Die Untersuchung will einen Beitrag leisten, diese Lücke zu schliessen und eine Antwort auf die Frage zu geben: Wie wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz über Krankheit und Gesundheit im schulischen Kontext diskutiert?

 

Die schulhygienische Diskussion wird in der Schweiz um die Jahrhundertwende massgeblich durch die 1899 gegründete Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege angeregt und in der Folge auch geprägt. Ihre Publikationen bilden deshalb einen wichtigen Teil des Quellenkorpus’ der Arbeit. Die Schulhygiene stellt eine Schnittstelle der Bereiche Medizin und Pädagogik dar. Daher liegt der Schluss nahe, dass die Ärzte und die Lehrerschaft – welche die für die Thematik relevanten Professionsperspektiven verkörpern – mittels ihrer Berufsvereinigungen am Diskurs über Krankheit und Gesundheit im schulischen Kontext partizipieren. Die Schweizerische Lehrerzeitung sowie die Lehrerinnen-Zeitung ergänzen das Quellenkorpus um die Professionsperspektive der Lehrpersonen. Die Professionsperspektive der schweizerischen Ärzteschaft bildet das Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte ab. Die Analyse der Quellen lehnt sich an den Ansatz der historischen Diskursanalyse an.

 

Der Diskurs zu Krankheit und Gesundheit im schulischen Kontext zeichnet sich im untersuchten Zeitraum (1899-1928) insgesamt durch Kontinuität und nicht durch Wandel aus. Zahlreiche Aspekte, die bereits kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert diskutiert wurden, sind auch noch dreissig Jahre später in den Debatten präsent. So sind (mit Ausnahme des Kropfs) alle thematisierten Erkrankungen schon in den Jahren nach 1900 in der Diskussion vorhanden und bleiben dies – mit unterschiedlich grossen Unterbrüchen – bis in die 20er Jahre. Weitaus am häufigsten wird über ansteckende Krankheiten diskutiert (in erster Linie über die chronische Tuberkulose, ferner über akute Infektionskrankheiten). Die Bedeutsamkeit dieser Erkrankungen im untersuchten Diskurs entspricht mitnichten der schulischen Realität: Während Erkrankungen der Sinnesorgane (insbesondere Augenleiden) bei Schulkindern häufig auftreten – wie die Statistiken zu den schulärztlichen Untersuchungen zeigen –, handelt es sich bei der TB nicht um eine Krankheit, die im Schulalter häufig diagnostiziert wird. Die Dominanz ansteckender Krankheiten in den Debatten ist vor dem Hintergrund diffuser Bazillenängste zu sehen. Aufgrund bakteriologischer Erkenntnisse ist den Diskursteilnehmern zwar bekannt, dass Krankheitserreger existieren, das Wissen um die Bazillen ist vorhanden; hingegen ist unbekannt, wie die Krankheiten von einem Individuum auf das andere übertragen werden und auch adäquate Therapiemöglichkeiten existieren nicht. Dieser Umstand schürt die Angst vor den „unsichtbaren Feinden“ (Mesmer) in der Luft. Vermeintlich infizierte Personen stellen folglich eine ständige Gefahr für die Gesunden dar. Die Angst vor dem Unbekannten und Bedrohlichen prägt somit den Diskurs über Krankheiten und Gebrechen im schulischen Kontext massgeblich. Ferner wird der Diskurs über den gesamten Zeitraum durch die Mediziner dominiert. Die Pädagogen äussern sich nicht bloss seltener zur besagten Thematik, sie übernehmen ferner oft die Argumente der Doktoren. Die Ärzte dominieren selbst die Diskussionen zum Hygieneunterricht – das Thema, welches am stärksten die Unterrichtsebene und damit das Fachgebiet der Pädagogen betrifft. Selbst in diesem Bereich lassen die Lehrpersonen die Möglichkeit ungenutzt, sich als Experten in die Debatten einzubringen und didaktische Fragen und Konzepte anzusprechen. Die Macht im Diskurs liegt somit klar auf der Seite der Mediziner: Sie sind es, die das Spektrum der Diskussion vorgeben, das Regelwerk des Diskurses bestimmen. In der Konsequenz bewegen sich die Debatten in ihrem Fachgebiet – dasjenige der Lehrer wird gar nicht erst angesprochen. Bemerkenswert ist ferner, dass es auch (in erster Linie) die Ärzte sind, die dem medizinischen Diskurs eine pädagogische Dimension verleihen. Dieses erzieherische Moment tritt besonders deutlich hinsichtlich Hygieneunterricht und Schulzahnpflege zutage. In der Hygieneunterweisung sollen die Kinder den Wert eines gesunden Körpers kennen lernen und die Zahnpflege soll ihnen den Wert eines intakten Gebisses vermitteln. Dieses Gesundheitsbewusstsein, welches die Schüler entwickeln sollen, zielt in die Zukunft. Indem die Kinder um den Wert eines gesunden Körpers wissen, bewahren sie sich diesen nach Möglichkeit auf ihrem künftigen Lebensweg. Diese Vorstellungen sind im Kontext der Bedeutungszunahme zu sehen, welche der Begriff „Gesundheit“ im ausgehenden 19. Jahrhundert erfährt.

 

Schliesslich sind die Diskussionen fortwährend auf ein übergeordnetes Ziel ausgerichtet: die Gesundung des Volkskörpers. Dies bedeutet einerseits, dass der Blick der Diskursteilnehmer sich nicht auf das einzelne Kind, sondern auf das Kollektiv der Schuljugend richtet und damit der reformpädagogischen, kindzentrierten Sichtweise entgegenläuft. Andererseits ist der Blick der Autoren auf die Zukunft der Bevölkerung gerichtet. Hygienische Erziehungsmassnahmen werden als wichtiges Element im Hinblick auf die Krankheitsprophylaxe aufgefasst. Die Schule stellt nach Ansicht der Autoren einen bedeutenden Interventionsbereich dar für eine generelle Verhütung von Erkrankungen – allen voran der Tuberkulose, die keine typische Kinderkrankheit ist. Im Zentrum der Betrachtung steht nicht primär die Gesundheit der Schüler, sondern die der gesamten Bevölkerung und damit auch die Zukunft des Landes.

 

Gemäss liberalem Bildungskonzept, welches das Fundament der Umstrukturierungen der schweizerischen Volksschule im 19. Jahrhunderts darstellt, ist es Aufgabe der Schule, die zukünftigen Staatsbürger zu bilden. Schulische Bildung ermöglicht politische Partizipation. Obwohl im untersuchten Diskurs die Zukunft der Schweizer Bevölkerung im Zentrum steht, ist diese bildungspolitische Dimension nicht zentral. Der Blick der Autoren ist nicht auf das Weiterbestehen der Schweiz als staatliches Gebilde gerichtet, sondern auf den gesunden Volkskörper als Endziel ausgerichtet. Die Schule hat dem Zweck, der Volksgesundheit zu dienen. Nicht die bildungspolitische, sondern eine sozialpolitische Perspektive steht im Zentrum des analysierten Diskurses über Gesundheit und Krankheit im schulischen Kontext zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz.

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