Verantwortung: Lukas Alex
Referierende: Sophie Küsterling / Lukas Alex / Britta-Marie Schenk
Moderation: Britta-Marie Schenk
Die Frage, ob soziale Marginalisierung immer ein Problem mangelnder Wahrnehmung sei, stellte den Ausgangspunkt der einleitenden Überlegungen von BRITTA-MARIE SCHENK (Luzern) dar. Politische Debatten der Gegenwart gingen oft vom Standpunkt aus, dass die Anliegen von Menschen mit Behinderung, Migrantinnen und Migranten, Psychiatriepatientinnen und -patienten, queeren Personen oder Obdachlosen unberücksichtigt blieben, da sie öffentlich zu wenig wahrgenommen würden. Umgekehrt seien diese Gruppen aber erst durch ihre sichtbarmachende Benennung zugänglich für behördliche oder politische Eingriffe. Ausgehend von dieser Ambivalent setzte sich das Panel kritisch mit der Unsichtbarkeit marginalisierter sozialer Gruppen auf der einen Seite sowie deren Sichtbarkeit und gesellschaftlicher Teilhabe auf der anderen Seite auseinander, um aufzuzeigen, dass (vermeintlich) unsichtbare Gesellschaftsgruppen bis zu einem gewissen Grad auch vor behördlichen Eingriffen geschützt waren und dadurch grössere Handlungsspielräume besassen.
LUKAS ALEX (Bayreuth) skizzierte in seinem Vortrag die Bemühungen und Praktiken von Vererbungswissenschaftlern der 1950er Jahre, als «erbkrank» markierte Personen (wieder) sichtbar und damit erforschbar zu machen. Zwar führte die alliierte Besatzung Deutschlands zur Schliessung zahlreicher «rassenhygienischer» Institutionen und einem Mangel an Probanden für die Forschung. Die Praxis, betroffene Menschen zu sterilisieren und damit zu marginalisieren, endete jedoch nicht mit dem Ende des NS-Regimes. Zwischen 1956 und 1967 entstand das «Genetik Register», das die Auswirkungen von Strahlung auf die menschliche Vererbung im Kontext des Atomzeitalters untersuchen sollte. Es handelte sich um das grösste genetische Erfassungsprojekt in der jungen Bundesrepublik Deutschland. Initiiert wurde es von Otmar von Verschuer, einem ehemaligen NS-Rassenhygieniker, der die Mutationsrate im Münsterland anhand eines Registers, mit dem Krankheiten sortier- und zählbar gemacht wurden, zu schätzen versuchte. Obwohl die Anzahl der Probanden weit unter der benötigten Schwelle für aussagekräftige Resultate lag, wurde das Register bis 1979 genutzt und weitete sich in diesem Zeitraum auf den «Gesamtkomplex der krankhaften Erbmerkmale» (Verschuer) aus. Alex argumentierte resümierend, dass die Sichtbarmachung von «erbkranken» Personen ausschliesslich der Wissensproduktion zur Atomwirkung diente und diese Menschen zu einem Objekt der Wissenschaft machte. Die Diskrepanz zwischen den unrealistischen «Erfassungsfantasien» und der tatsächlichen Reichweite des Projekts führte somit zu einer fragmentarischen Sichtbarkeit, die vielmehr als Machtinstrument verstanden werden muss.
Britta-Marie Schenk beleuchtete in ihrem Beitrag die Bedeutung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit für die Lebensbedingungen von Obdachlosen in der Schweiz. Schenk präsentierte zunächst einen ereignisgeschichtlichen Überblick, primär Wandlungsprozesse und Kontinuitäten in der Geschichte der Obdachlosigkeit, bevor sie anhand einer Fallstudie den Handlungsmöglichkeiten obdachloser Menschen nachging. So veränderte sich sowohl die soziale Zusammensetzung der Obdachlosen, als auch, dies insbesondere ab den 1970er Jahren, die gesellschaftliche Bewertung von Obdachlosigkeit, die nun nicht mehr von Vorstellungen einer selbstverschuldeten Lebenslage ausging, sondern vielmehr sozio-ökonomische Ursachen betonte. Vor diesem Hintergrund kam es auch zum Ausbau der Obdachlosenhilfe, die mit neuen institutionellen Sichtbarkeiten einherging. Die Wohnpolitik blieb dennoch als Faktor bestehen, der entscheidend zur Perpetuierung des sozialen Problems beitrug. In den 1980er und 1990er Jahren setzten nach amerikanischem Vorbild in Europa und später auch in der Schweiz städtische Vertreibungs- und Invisibilisierungspolitiken ein. Vor diesem Hintergrund fokussierte Schenk in einem zweiten Schritt auf die Handlungsmöglichkeiten von Obdachlosen in der Schweiz, die sich freiwillig in eine Anstalt begaben. Zwar waren deren Aufenthaltsbedingungen gleich wie für die regulären Insassen, obdachlose Menschen konnten jedoch jederzeit ein- und wieder austreten. Dies führte zu Konflikten mit den regulären Insassen und machte obdachlose Menschen sichtbar gegenüber der Anstaltsleitung, die wiederum mit neuen Restriktionen reagierte. Die neuen Handlungsspielräume in der Anstalt zogen zwar – so das Hauptargument von Schenk – neue Kontrollmechanismen nach sich, dennoch nutzten obdachlose Menschen ihren freiwilligen Aufenthalt weiterhin strategisch, um sich ihrer restriktiven Sichtbarkeit im öffentlichen Raum zu entziehen.
Abschliessend behandelte SOPHIE KÜSTERLING (Luzern) den freiwilligen Eintritt von psychisch kranken Ausländern und Ausländerinnen in eine psychiatrische Klinik in der Schweiz in den 1930er Jahren. Diese bedeutete sowohl deren medizinische Sichtbarmachung, aber auch eine behördliche Wahrnehmung und dadurch die Gefahr der Ausweisung aus der Schweiz. Küsterling verfolgte dabei die These, dass die freiwillige Sichtbarkeit von psychisch erkrankten Deutschen nicht etwa zu mehr Teilhabe an ihrer Behandlung führte, sondern vielmehr erst den behördlichen Zugriff ermöglichte. Anhand von drei Fallbeispielen aus den Kantonen Basel-Stadt und Zürich zeigte Küsterling, wie die behördlichen Massnahmen von einer Ambivalenz und Inkonsistenz geprägt waren, die nicht immer in einer Heimschaffung resultierten, aber im schlimmsten Fall tödliche Konsequenzen haben konnte, etwa wenn Menschen nach der Ausweisung ins eugenische NS-Ermordungssystem gerieten. Anhand behördlicher Quellen wurde deutlich, dass das Heimatprinzip der Schweiz eine zentrale Rolle spielte: Verarmte «Fremde» hatten keinen Anspruch auf Fürsorge und es erfolgte stattdessen die Rückschaffung in die Heimatstaaten. Anfang des 20. Jahrhunderts konstruierte sich zudem die Vorstellung einer «Degeneration des Schweizer Volkskörpers», die sich mit dem Überfremdungsdiskurs nach dem Ersten Weltkrieg verband.
In der anschliessenden Diskussion drehten sich mehrere Fragen um das Zusammenspiel von Eugenik und Herkunftsdiskurs in den Fallakten von Küsterling und Alex. Während dieses bei den psychiatrischen Ausweisungen der 1930er eine zentrale Rolle spielte, fand der Geburtsort im «Genetik Register» wenig Verwendung, da man sich von rassifizierten Argumentationen der NS-Zeit abgrenzen wollte. Ebenfalls diskutiert wurde die Schaffung von Fallakten durch Überwachungsinstrumente, was sich als roter Faden durch alle Vorträge zog, darunter die Computerisierung von Registern, polizeiliche Kontrollen, Überwachungskameras und der Einsatz privater Sicherheitsfirmen. Die geschichtswissenschaftliche Fassbarkeit der Betroffenen ist somit immer abhängig von neuen Sichtbarkeitsinstrumentarien, die – so hielten die Referierenden abschliessend fest – in vielen Fällen auch zu einer Kriminalisierung ihrer Handlungen führte. Dennoch haben die Vorträge übergreifend gezeigt, dass sich marginalisierte Menschen immer auch den totalen Zugriffsansprüchen der Behörden zu entziehen versuchten.
Panelübersicht:
Lukas Alex: Fragmentarische Sichtbarkeit. Die Erfassung von «Erbkranken» in der bundesrepublikanischen Humangenetik, 1950er–1970er
Britta-Marie Schenk: Privilegierte Unsichtbarkeit. Obdachlose in der Schweiz im 20. Jahrhundert
Sophie Küsterling: Zwischen Heilung und Ausweisung. Schweizer Psychiatrie und Fremdenpolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts