Zwischen Rassismus, Markt und Menschenrechten. Das internationale Regime zur Kontrakt- und Zwangsarbeit im südlichen Afrika 1919-1944

AutorIn Name
Andrea
Schweizer
Academic writing genre
PhD thesis
Status
abgeschlossen/terminé
DozentIn Name
Prof.
Marina
Cattaruzza
Institution
Historisches Institut
Place
Bern
Year
2002/2003
Abstract

In Artikel 22 des Versailler Friedensvertrages wurde von Völkern gesprochen, die noch nicht in der Lage seien, sich unter den Bedingungen der modernen Welt selbst zu regieren. Für die zeitgenössischen Beobachter war klar, dass es sich bei diesen Völkern um die Einwohner Afrikas des Pazifiks sowie teilweise Asiens und Arabiens handelte. Es existierte also eine zivilisierte und eine unzivilisierte Welt.
 

Die Dissertation untersucht in diesem Zusammenhang die Perzeption afrikanischer Menschen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen anhand der Beziehung zwischen der Südafrikanischen Union und der im Rahmen des Völkerbundes neu gegründeten Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organisation, ILO) in Genf. Die ILO eignet sich dank ihrer tripartistischen Struktur (Regierungen, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften) und ihrem Aufgabenbereich (soziale Gerechtigkeit) besonders gut, um tiefere Einblicke in die gesellschaftlichen Strukturen und vorherrschenden Ideologien der Mitgliedsländer zu erhalten. Zudem begann die Organisation sich ab Mitte der zwanziger Jahre mit dem Problem des Arbeiterschutzes für Indigene zu beschäftigen und verabschiedete bis zum Kriegsausbruch vier entsprechende Konventionen. Südafrika, das an den Pariser Friedensverhandlungen zum ersten Mal als faktisch souveräner Staat agieren konnte und das sich in einem aufholenden Modernisierungsprozess befand, errichtete in der gleichen Zeit ein System der Rassentrennung, das wesentlich auch den Arbeitsbereich betraf. Im Gegensatz zu den Kolonialmächten, die für sich selbst einen entsprechenden Artikel durchgesetzt hatten, konnte die südafrikanische Union ihre nichtweisse Bevölkerung nicht aus dem Schutzbereich der ILO-Konventionen ausnehmen oder diese ihren Bedürfnissen anpassen.
 

Die Arbeit stützt sich in erster Linie auf die Bestände des Archivs der ILO in Genf mit besonderer Berücksichtigung der Dokumentation zur indigenen Arbeit und der Korrespondenz zwischen Südafrika und dem Internationalen Arbeitsamt. Zudem wurden die Protokolle der Internationalen Arbeitskonferenz, des Verwaltungsrates und verschiedener Expertenkommissionen sowie weitere Veröffentlichungen der ILO analysiert.
 

Die untersuchte Zeitspanne reicht von den Pariser Friedensverhandlungen 1919 bis zur Verabschiedung der Grundsatzerklärung von Philadelphia 1944. Die Zäsuren rechtfertigen sich einerseits durch die Gründung der ILO und somit dem verankerten Anspruch auf soziale Gerechtigkeit, und andererseits mit dem Schritt der ILO ins UNO-Zeitalter, in dem Diskriminierung auf Grund von „Rasse“ verboten wurde. Die Arbeitshypothese ging dabei davon aus, dass in dieser Periode keine wesentlichen Fortschritte in der Menschenrechtsfrage erzielt wurden, und dass der Zweite Weltkrieg eine markante Zäsur darstellte und nicht nur die Beschleunigung eines bereits weitläufig begonnenen Prozesses.
 

Im Verlaufe der Arbeit konnte gezeigt werden, dass die Afrikanerinnen und Afrikaner während der Zwischenkriegszeit zwar nicht zu den von der Politik vergessenen Gruppen der Menschheit, aber klar zu den diskriminierten zählten. Die noch weitgehend europäisch dominierte Welt war wenig geneigt, nichtweisse Personen als gleichberechtigt zu betrachten. Obwohl der Widerspruch zwischen proklamierter Gleichheit und faktischer Ungleichheit immer mehr ins Bewusstsein der öffentlichen Meinung drang und einige soziale Gruppierungen begannen, für die Rechte der Unterdrückten zu kämpfen, fiel es den Verantwortlichen schwer, auch Afrikaner unter den Begriff „Mensch“ zu subsummieren.
 

Die Völkerbundsordnung schuf eine Hierarchie basierend auf rassistischen Vorstellungen. Die einzelnen Völker unterschieden sich im Grad ihrer Repräsentation, ihres Einflusses, ihrer Zukunftsperspektiven und der zugestandenen Menschenwürde. Von einem umfassenden Menschenrechtsgedanken konnte noch keine Rede sein, was sich im Rahmen des Zweiten Weltkriegs insbesondere unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Gräueltaten radikal änderte. In den Diskussionen der Internationalen Arbeitskonferenz 1944 wagte niemand mehr, die Gleichheit der Rassen in Frage zu stellen, obwohl die selben Delegierten noch 1939 den Afrikanern die Fähigkeit abgesprochen hatten, ziviles Recht zu verstehen und sie im Falle von Verletzungen des Arbeitsvertrages strafrechtlich verfolgen liessen. 

Die Zwischenkriegszeit kann tatsächlich als eine Zeit des Übergangs beschrieben werden, was sowohl die Ergebnisse der Untersuchung der Aktivitäten der ILO im Bereich der indigenen Arbeit zeigen als auch die Analyse der Reaktionen der internationalen Gemeinschaft auf die Segregation in Südafrika. Mit ihren Konventionen zur indigenen Arbeit mischte sich die Internationale Arbeitsorganisation zwar in die Souveränität der Kolonialstaaten ein, aber es ging dabei um die Bekämpfung von Missbräuchen im Umgang mit indigenen Arbeiterinnen und Arbeitern. Niemals stellte die ILO den Kolonialismus per se in Frage. Sie glättete die Ecken und Kanten der Zwangsund Kontraktarbeit: eines Instrumentes, das die Freiheit und Würde der Indigenen allein durch sein Bestehen beeinträchtigte. Die Humanisierung ermöglichte den Kompromiss zwischen dem Bedarf der Kolonialisten an Arbeitskräften und dem guten Gewissen der internationalen Gemeinschaft. Das Regime zur Regelung der Zwangsund Kontraktarbeit bewegte sich so zwischen Rassismus, Markt und Menschenrechten. 

Trotzdem befürchteten die Kolonialmächte, die im Rahmen der Internationalen Arbeitskonferenz eine Minderheit darstellten, sich von Ländern ohne Kolonien humanitäre Utopien aufdrängen lassen zu müssen und diese Angst erfasste auch die Südafrikanische Union. Ihre institutionelle Diskriminierung der Afrikaner verletzte den Anspruch auf soziale Gerechtigkeit und die weisse Elite musste mit Kritik rechnen. Tatsächlich entwickelte sich die Wahrnehmung der ILO in Südafrika von Enthusiasmus über wachsende Feindseligkeit hin zu einer sanften Annäherung, bis sich schliesslich ein modus vivendi fand, mit dem sich beide Parteien bequem arrangieren konnten.
 

Die anfängliche Begeisterung, ausgelöst durch die aktive Beteiligung ihres Staates an der Ausgestaltung der Pariser Ordnung, verebbte schnell, als der Entscheid des Verwaltungsrates, sich mit indigener Arbeit zu beschäftigen, zusammenfiel mit heftigen verbalen Attacken der indischen Delegation an der Rassenpolitik Südafrikas. Diese Ereignisse führten jedoch nicht zu einer offensiven diplomatischen Strategie, sondern im Gegenteil zu einer verstärkten Isolation. Die Südafrikaner waren davon überzeugt, dass Aussenstehende die Komplexität ihrer Rassenbeziehungen niemals verstehen könnten. Ausgleichend wirkte sich die Politik des Arbeitsamtes aus. Der stellvertretende Direktor, Harold Butler, lieferte nach einer Reise nach Südafrika einen moderaten Bericht ab, die leise Kritik in den Direktorenberichten war in diplomatische Watte gepackt und die besondere Situation des Landes wurde mit viel Verständnis gewürdigt. Es zeigte sich, dass auch in der ILO das tradierte Bild des Afrikaners vorherrschend blieb, obschon nicht unumstritten. Den Südafrikanern gelang es schliesslich, nach Rückschlägen in der Rekrutierungskonvention 1936, im angespannten internationalen Umfeld 1939 wesentliche Punkte ihrer rassistischen Arbeitsmarktpolitik in der Kontraktarbeitskonvention zu verankern.
 

Die vermeintliche Routine, die sich in den 1930er Jahren in der Beziehung zwischen der Südafrikanischen Union und der ILO eingespielt hatte, endete mit dem Zweiten Weltkrieg jäh. Die ILO beschloss mit der Erklärung von Philadelphia 1944 die Anerkennung der Gleichheit der Rassen. Südafrika verpasste diese moralische Wende. Seine Rassenhierarchie war durch den Krieg nicht direkt bedroht, das Land florierte wirtschaftlich und die schon länger praktizierte Abschottung von der Weltmeinung zeigte ihre Wirkung. Die Apartheid wurde schliesslich im gleichen Jahr eingeführt wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.

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